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„Wir wachten in unseren Erdlöchern auf und staunten“

Von 1967 bis 1968 musste ich meinen Militärdienst bei der NVA im Pionier-Bataillon 11 in Zeithain leisten, erzählt Joachim Bauer aus Coswig. Als alle an die Entlassung dachten, kam der Marschbefehl.

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© P/F/H / Keystone

Von 1967 bis 1968 musste ich meinen Militärdienst bei der Nationalen Volksarmee im Pionier-Bataillon 11 in Zeithain leisten. Im Sommer 1968 hatten die meisten von uns nur noch die baldige Entlassung im Kopf. Die Einheit lag ab Mitte Juli im Zeltlager, irgendwo in der Nähe von Annaburg an der Elbe. Dort übten wir Tag für Tag, Pontonbrücken über die Elbe zu bauen oder diese in Schwimmfahrzeugen oder Sturmbooten zu überqueren.

Bis Ende August sollte das Lager dauern. Plötzlich aber kam der Befehl zum Rückmarsch nach Zeithain. Wir waren kaum angekommen und hatten uns wieder eingerichtet, da heulten die Alarmsirenen. Ich glaube, es war die Nacht vom 20. auf den 21. August. Als wir innerhalb der vorgeschriebenen drei Minuten angetreten waren, wurde uns mitgeteilt, dass wir mit unbekanntem Ziel verlegt werden. Wir hatten noch etwas Zeit, einige persönliche Dinge mitzunehmen, und dann marschierten wir zu den Fahrzeugen. Nach den üblichen Startschwierigkeiten der Motoren ging es in Richtung Bahnanschluss des Standortes. Wir mussten das erste Mal mit unseren Kettenfahrzeugen auf Pritschenwagen der Reichsbahn fahren. Dann ging es los.

Nach mehreren Stunden wurden wir an einem unbekannten Ort entladen. Später haben wir erfahren, dass wir in der Nähe des Hermsdorfer Kreuzes waren. Wir mussten uns im Wald eingraben und Zelte aus den zur Ausrüstung gehörenden Planen bauen. Nach einer Nacht in völliger Unwissenheit musste das Bataillon antreten. Uns wurde mitgeteilt, dass der Verteidigungszustand ausgerufen sei, weil in der CSSR die Konterrevolution toben würde und die Rote Armee einmarschiert sei. Es könnte passieren, dass auch wir einmarschieren würden.

Dann erhielten wir verschiedene Waren. Fünf Zigaretten, zehn Gramm Kaffee, ein Stück Seife mit dem Namen „Steckenpferd Lilienmilch“ und ein Stück Rasierseife. Dazu gab es den Kampfsatz an Munition für die Kalaschnikow. Also 300 Schuss, davon 120 Schuss in Magazinen, der Rest kam in die Hosentasche. Ich war froh, dass ich als Fahrer keine Kalaschnikow trug, sondern eine wesentlich leichtere Pistole. Vor allem aber hatte ich Angst – ich, der scheinbar immer Furchtlose, hatte zum ersten Mal so richtig Angst. Wir wussten auch in den kommenden Tagen nicht, was da wirklich los war. Außer der Armeezeitung hatten wir keine Informationsquellen. Radios waren streng verboten. Ich war gerade mal 20 Jahre geworden und wollte nicht sinnlos verrecken, wie es knapp 30 Jahre vorher schon einmal so vielen passiert war. Es gab ja Gerüchte, dass im süddeutschen Raum größere Nato-Einheiten zusammengezogen werden sollten. Getarnt wäre das Ganze als Manöver, aber es könnte sein, dass der Westen auch die Absicht hätte, in der CSSR einzumarschieren. Dann kam der erneute Marschbefehl. Wir dachten, jetzt geht es los. Viele von uns hatten nichts weiter als eine Heidenangst. Die Erzählungen unserer Väter waren zu frisch, um wieder den Helden zu spielen. Aber wir wurden nur in der Nähe von Klingenthal an die tschechische Grenze verlegt und warteten, was da kommt.

Eines Tages gab es früh große Aufregung. Die Tschechen hatten sicher mitbekommen, was da auf der anderen Seite passiert, und hatten mit weißer Farbe auf ein steiles, gut sichtbares Schieferdach geschrieben: „1938 Hitler – 1968 Ulbricht?“ Es war mittlerweile Ende September, der Winter war im Gebirge ungewöhnlich zeitig eingebrochen. Wir wachten in unseren Erdlöchern auf und staunten nicht schlecht, alles war verschneit. Die Schneepracht dauerte nicht lange. Es taute, die Zustände in den Erdlöchern wurden untragbar. Wir wurden in ein nur im Winter genutztes Heim in Schneckenstein verlegt. Unser Leben normalisierte sich. Wir konnten uns wieder richtig waschen und bekamen frische Unterwäsche. Die Gefahr des Einmarsches schien mittlerweile gebannt, aber es war noch Verteidigungszustand.

Der Oktober verging. Wir hatten Angst, nicht entlassen zu werden. Unsere Quietschenten-Bandmaße schnitten wir weiterhin täglich ab, jeder Zentimeter ein Tag weniger. Erst Mitte November erfuhren wir, dass wir tatsächlich entlassen werden. Ich weiß nicht mehr, ob es nur die Entlassungskandidaten oder die ganze Einheit war, die zurück an den Standort verlegt wurde. Ich erhielt 180 Alumark als Entschädigung für nicht erhaltenen Urlaub. Diese Zeit ist für mich als etwas ganz Schlimmes unvergessen geblieben.