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Wenn sie kämpfen könnten

Das Beispiel Parkinson zeigt: In Sachsen droht eine Versorgungskrise für chronisch Erkrankte. Hier muss sich endlich was tun, fordert Dr. Kai Loewenbrück, Neurologe und Parkinson-Spezialist am Uniklinikum Dresden.

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© Peer Grimm/dpa

Von Kai Loewenbrück

Gleichwertige Lebensverhältnisse sind ein derzeit viel bemühter Begriff und ein so wichtiges gesellschaftliches Anliegen, dass es Erwähnung im Grundgesetz findet. Gleichwertig bedeutet jedoch nicht gleich. Das Leben im Bielatal in der Sächsischen Schweiz wird immer andere Qualitäten haben als das Leben in der Residenzstadt Dresden. Während es im Bielatal frische Luft, Ruhe und Natur gibt, müssen Dresdner hierbei Abstriche machen, haben dafür aber eine Semperoper. Es gibt jedoch Lebensbereiche, in denen „gleichwertig“ gleichbedeutend mit „gleich“ sein sollte – weil es sich um Grundbedürfnisse handelt, die unabhängig vom Leben in der Stadt oder auf dem Land identisch sind. Die Gesundheitsversorgung ist ganz sicher ein solches.

Dr. Kai Loewenbrück, 42, ist Neurologe und Parkinsonspezialist am Universitätsklinikum Dresden.
Dr. Kai Loewenbrück, 42, ist Neurologe und Parkinsonspezialist am Universitätsklinikum Dresden.

Und das führt direkt dazu, was die Parkinson-Erkrankung mit gleichwertigen Lebensverhältnissen zu tun haben könnte. Sie hat vor allem damit etwas zu tun, weil in Sachsen für Parkinson-Patienten ein dringender Handlungsbedarf besteht, wenn das Versprechen gleichwertiger Lebensverhältnisse ernst genommen werden soll. Die Parkinson-Erkrankung ist zudem ein idealer Indikator für versorgungsmedizinische Probleme auch bei anderen chronischen Erkrankungen. Gelingt es nicht, diese Probleme für Parkinson-Patienten zu lösen, so muss man mit vielen anderen chronischen Erkrankungen erst gar nicht anfangen.

Das Ganze ist kein Randproblem. Denn die älter werdende Gesellschaft führt dazu, dass immer mehr Menschen unter altersbezogenen Erkrankungen (wie Parkinson) leiden. Weltweit wird vor einer Versorgungskrise ohne grundlegende Anpassung von Ressourcen und Strukturen gewarnt. Und Sachsen ist hierbei besonders betroffen: Hier lebt die älteste Bevölkerung Deutschlands. Was auch bedeutet, dass es besonders viele Parkinson-Patienten gibt: Tatsächlich mindestens 32 000 und damit mehr, als Meißen Einwohner hat. Bis zum Jahr 2030 soll sich diese Zahl verdoppeln. Das wäre dann die Einwohnerzahl von Plauen. Oder Pirna.

Um die Dringlichkeit besser zu verstehen, hier ein paar Zeilen zur Erkrankung selbst. Es handelt sich um eine neurodegenerative Erkrankung, gekennzeichnet durch das langsame Absterben von Nervenzellen. Im Gegensatz zu anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie etwa der AlzheimerDemenz hat Parkinson einen entscheidenden Vorteil (auch wenn man niemandem diese Erkrankung wünschen sollte): Der Zelluntergang betrifft hauptsächlich eine Nervenzellart mit einem speziellen Botenstoff: Dopamin. Durch diesen Mangel entstehen die Symptome, die vor allem (aber nicht nur) die Motorik betreffen: Die Betroffenen können sich nur langsam bewegen, leiden unter Muskelsteifigkeit, Zittern und Gangunsicherheit. Die relative Selektivität für diese Zellen und Dopamin ist Grundlage der sehr guten Behandelbarkeit: Wird der Dopaminmangel richtig ausgeglichen, so können sich die Patienten über viele Jahre sehr gut, anfangs sogar fast normal, bewegen.

Allein, der Zelluntergang geht mit den Jahren weiter. Das führt dazu, dass das sogenannte therapeutische Fenster mit guter Beweglichkeit immer enger wird. Bleibt man in diesem Fenster, so geht es den Patienten weiterhin gut, nur dass die dafür notwendige Therapie immer komplexer wird und immer mehr Spezialwissen und -verfahren erfordert. Das ist prinzipiell alles möglich, denn es gibt wenige Erkrankungen, für die es so viele spezielle Werkzeuge gibt wie für Parkinson, zum Beispiel die Tiefe Hirnstimulation. Das bedeutet auch, dass, wenn man es richtig und rechtzeitig macht, die Früchte für einen therapeutischen Erfolg bei Parkinson besonders niedrig hängen.

Gute Therapiemöglichkeiten bedeuten aber auch eine besondere Verantwortung: Und zwar dafür, dass alle Patienten einen gleichberechtigten und rechtzeitigen Zugang haben, bevor unwiderrufliche Verschlechterungen eintreten, sei es durch Knochenbrüche, Lungenentzündungen, psychische Komplikationen oder Pflegeheimeinweisungen. Parkinson ist somit ein sehr gutes Beispiel, dass gelingen kann, wozu das Sächsische Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz aufruft: „Behinderung verhindern.“ Ein schlecht behandelter Parkinson-Patient ist ganz sicher behindert, im schlimmsten Fall nicht einmal gehfähig. Ein gut behandelter kann häufig am Alltag teilhaben, sei es durch einen Besuch der Semperoper oder durch einen Spaziergang im Bielatal.

Längst ist die drohende Krise jedoch mehr als nur ein ungutes Gefühl: Am Universitätsklinikum Dresden wurden 2016 schon 56 Prozent aller Parkinson-Patienten als Notfall aufgenommen, viel zu häufig mit vermeidbaren Komplikationen. Auch von einer Gleichwertigkeit kann nicht mehr geredet werden: Die Chance einer Tiefen Hirnstimulation ist in der Stadt Dresden um den Faktor 6 höher als im ländlichen Raum. Parkinson-Patienten sollten eigentlich Zugang zu Spezialisten haben: In Dresden werden hingegen 16 Prozent ausschließlich von Hausärzten betreut, in ländlichen Regionen sogar bis zu 40 Prozent. Irgendwie logisch, dass diese 40 Prozent kaum eine Tiefe Hirnstimulation erhalten werden, egal wie eng ihr therapeutisches Fenster auch sein mag. All das kann nicht gesellschaftlich gewollt sein, wenn gleichwertige Lebensverhältnisse mehr sein sollen als Gegenstand des Grundgesetzes oder einer ministerialen Kommission in Berlin. Wenn Behinderung wirklich verhindert und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht werden soll.

Zumal andere Regionen in Europa und Deutschland längst zeigen, dass sich diese Entwicklung nicht nur stoppen, sondern sogar umkehren lässt, wenn es gesellschaftlich gewollt ist und wenn notwendige Mittel bereitgestellt werden. Sei es in den Niederlanden, in Luxemburg oder Münster: Hier gibt es spezielle Versorgungsnetzwerke für Parkinson-Patienten. Mit dem Ziel, das zu sichern, was für gleichwertige Lebensverhältnisse von Parkinson-Patienten wesentlich ist: Der gleichberechtige und rechtzeitige Zugang zu eigentlich guten Behandlungsmöglichkeiten, und zwar unabhängig von Wohnort oder Portemonnaie. Mit dem Ergebnis, dass die Lebensqualität steigt und sogar globale Therapiekosten sinken, zum Beispiel durch weniger Krankenhausaufenthalte.

Ärzte vom Elblandklinikum Meißen, von der Klinik am Tharandter Wald und vom Universitätsklinikum Dresden haben einen ersten Schritt gemacht. Sie haben ein solches Netzwerk gegründet, das Parkinson-Netzwerk Ostsachsen. Gemeinsam mit der AOK Plus, der IKK Classic und der sächsischen Landesärztekammer wurde ein Förderantrag beim sogenannten Innovationsfonds gestellt, der bei Bewilligung die Finanzierung sicherstellen sollte.

Unabhängig hiervon ist jedoch eines klar: Die gegenwärtigen Rahmenbedingungen sind für die Bewältigung dieser Herausforderung denkbar ungünstig. Sei es die strikte, teilweise durch Gesetze oder auch berufsständische Traditionen erzwungene Trennung zwischen Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten, die einer gemeinschaftlichen Patientenbetreuung zuwiderläuft. Sei es, dass es weder der komplexen Erkrankung noch den Patienten selbst gerecht wird, wenn ambulante Neurologen für die Behandlung nicht mehr Geld erhalten als für einen simplen Spannungskopfschmerz. Es sind schlichtweg auch technische Innovationen notwendig, damit die Patienten zeitgemäß und effizient betreut werden können, und zwar auch dann, wenn sie nicht in Rufweite eines spezialisierten Arztes wohnen. Telemedizin wird hierbei eine wichtige Rolle spielen, und zwar nicht nur in Sachsen, sondern weltweit. Für ein Pilotprojekt wurden Mittel der EU durch das Sozialministerium bewilligt. Aber ohne ganzheitliches Konzept, ohne gemeinschaftliches Netzwerk als Rückgrat und ohne ein förderndes Umfeld sind technische Innovationen ein stumpfes Schwert.

Dieser Artikel ist auch ein Appell für das Recht auf gleichwertige Lebensverhältnisse von Parkinson-Patienten in Sachsen. Ein Appell dafür, dass sich der öffentliche Diskurs nicht immer um diejenigen drehen sollte, die sich ihre empfundene Benachteiligung aus der Seele schreien, sodass es unüberhörbar ist. Denn das machen Parkinson-Patienten nicht. Wenn sie auffallen, dann eher dadurch, dass sie leise sprechen oder langsam gehen. Nicht nur die hübsch sanierte Innenstadt von Meißen kann eine wichtige Investition in gleichwertige Lebensverhältnisse sein, sondern auch die Sicherung des Therapiezuganges für 32 000 Menschen mit einer gut behandelbaren, chronischen Erkrankung. Erfolg werden wir nur haben, wenn sich alle Beteiligten dem Wohl von Parkinson-Patienten verpflichtet fühlen: Ob Ärzte an Krankenhäusern oder in Niederlassung, ob Politik, Krankenkassen oder berufsständische Organisationen. Die Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist laut Grundgesetz zuallererst Ländersache. Dass dem für Parkinson-Patienten Rechnung getragen und Behinderung verhindert werden kann, zeigen die Beispiele aus den Niederlanden und anderswo. Lassen Sie uns die Situation als eine Chance verstehen, gemeinsam diese Erfolge auch für sächsische Parkinson-Patienten zu wiederholen.

Gemeinsam haben Ärzte u. a. vom Elblandklinikum Meißen und von der Klinik am Tharandter Wald das Parkinson-Netzwerk Ostsachsen gegründet. Ärzte, Therapeuten, berufsständische und Patientenorganisationen sowie die Politik sind zur Mitarbeit eingeladen.

Am 10.11. um 9.30 Uhr lädt das Netzwerk zu einer Auftaktveranstaltung für Patienten und Interessierte im Medizinisch-Theoretischen Zentrum (MTZ), Hörsaal 1, Fiedlerstr. 42, 01307 Dresden. Nähere Infos demnächst unter folgender Webseite (im Aufbau):

www.parkinsonnetz-ostsachsen.de

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die SZ kontroverse Texte, die zur Diskussion anregen sollen.