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Weit und breit kein Ballermann

Allein am Meer, die Berge waren nur mit Esel erreichbar: Der sächsische Botaniker Moritz Willkomm war einer der ersten Mallorca-Reisenden.

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© Deutsche Fotothek

Von Jonas Martiny

Ein Abenteuer ist eine Mallorca-Reise heute nicht mehr. Täglich gehen Flüge aus allen Ecken Deutschlands auf die Insel. Hunderte Hotels buhlen um die Gunst der Urlauber. Mit dem Mietwagen kommt man bequem in jede noch so entlegene Ortschaft. Restaurants bieten Speisen für jeden Geschmack. Wirklich unerforschte Ecken gibt es nicht mehr.

Heinrich Moritz Willkomm wurde 1821 in Herwigsdorf als Sohn eines Pfarrers geboren. Er besuchte das Gymnasium in Zittau, studierte in Leipzig. Über zwölf Jahre lehrte und forschte er an der Forstakademie Tharandt. Er starb 1895.
Heinrich Moritz Willkomm wurde 1821 in Herwigsdorf als Sohn eines Pfarrers geboren. Er besuchte das Gymnasium in Zittau, studierte in Leipzig. Über zwölf Jahre lehrte und forschte er an der Forstakademie Tharandt. Er starb 1895. © Biblioteca del Real Jardín Botánico, Mauritius
Moritz Willkomm gilt als einer der wichtigsten Botaniker des 19. Jahrhunderts. Neben der Flora Spaniens und Portugals sowie der Balearen erforschte er die Pflanzen Nordfrankreichs, Hollands, Böhmens, Skandinaviens und des Baltikums.
Moritz Willkomm gilt als einer der wichtigsten Botaniker des 19. Jahrhunderts. Neben der Flora Spaniens und Portugals sowie der Balearen erforschte er die Pflanzen Nordfrankreichs, Hollands, Böhmens, Skandinaviens und des Baltikums. © Biblioteca del Real Jardín Botánico, Mauritius

Als sich jedoch im Frühjahr 1873 der aus Herwigsdorf bei Zittau stammende Botaniker Moritz Willkomm als einer der ersten Deutschen nach Mallorca aufmacht, erwartet ihn eine wochenlange, strapaziöse Reise ins Ungewisse: mit der Eisenbahn über Genf nach Barcelona und von dort mit dem Dampfschiff in Richtung Balearen. Er bleibt gleich mehrere Wochen auf den Inseln. Nicht jedoch, um in der Sonne am Strand zu liegen, sondern um die Pflanzenwelt Mallorcas und Menorcas zu erkunden.

„Die Inseln sind in botanischer und pflanzengeographischer Hinsicht noch ungenügend erforscht“, schreibt er in dem Reisebericht, den er später veröffentlicht – eine der ersten ausführlichen Schilderungen Mallorcas in deutscher Sprache. Das Hauptanliegen seiner Reise ist also, zu „botanisieren“, wie er es nennt. Dafür bereist er wochenlang fast jeden Winkel Mallorcas, steigt auf Berge und klettert in Schluchten. Mal folgt er ortskundigen einheimischen Führern, mal zieht er auf eigene Faust los, immer auf der Suche nach einem Kraut oder einem Blümchen, das er noch nicht kennt und das zu beschreiben es sich lohnt.

Neuen Arten auf der Spur

Tatsächlich sammelt Willkomm während seines Inselaufenthaltes große Mengen Pflanzen, die er zwischendurch stets gründlich trocknet, dann verpackt und am Ende separat verschifft. Laut eigener Aussage befinden sich 27 neue Arten und Varietäten in den Paketen, die vor ihm noch niemand beschrieben hatte.

Bereits zum Zeitpunkt seiner Reise ist der damals 51-Jährige ein anerkannter Wissenschaftler. Er war Professor an der Universität in Leipzig, an der Forstakademie in Tharandt, folgte dann einem Ruf an die Universität in Dorpat, das heutige Tartu in Estland. Später wird er Professor für Botanik an der Universität in Prag. Zwei mehrmonatige Spanien-Reisen in den Jahren 1844 bis 1846 sowie 1850 hat er bereits hinter sich, nach Mallorca schaffte er es damals entgegen seinen Plänen allerdings nicht. Nun endlich ist die Gelegenheit da, auch die Flora der Balearen-Inseln zu erforschen. Am 1. März 1873 bricht er in Tharandt auf, gemeinsam mit seiner Tochter, „welche ich mir zur Reisegefährtin auserkoren hatte, um wenigstens ein Glied meiner, unter mütterlicher Obhut zurückgelassenen Kinderschar bei mir zu haben und Freude und Leid mit ihm theilen zu können“.

Die Erkundung der Insel gestaltet sich alles andere als einfach. Willkomm und seine Tochter, die nach einem knapp einwöchigen Aufenthalt auf Menorca am 6. April in Alcúdia im Norden Mallorcas an Land gehen, sitzen meist in einem „zweirädrigen, mit einer wasserdichten Plane überspannten Karren, in dessen auf Federn ruhenden und innen mit zwei gepolsterten Längsbänken versehenen Kutschkasten man von hinten einsteigt“. Diese vermutlich ziemlich holprige Art des Fortkommens verlangt beiden einiges ab. Strecken von wenigen Kilometern Länge bedeuten damals noch eine stundenlange, beschwerliche Reise. Im Tramuntanagebirge wiederum ist an Pferdekarren oder gar Kutschen mangels gepflasterter Straßen nicht zu denken. Dort bewegen sich die beiden Reisenden mithilfe von Eseln und Maultieren fort.

Aber nicht nur das erschwert den Inselaufenthalt der Willkomms. Sie finden die wenigen Unterkünfte, die es damals gibt, sehr einfach. Kaum ein gutes Wort verliert Willkomm über die Gasthöfe der Insel. Selbst das „Hotel der Vier Nationen“ mitten in Palma stellt ihn nicht zufrieden, obwohl es ihm als bestes Haus der Insel empfohlen worden war. „Es vermag nur recht bescheidenen Ansprüchen zu genügen“, hält Willkomm fest. „Die Verpflegung lässt gar viel zu wünschen übrig.“

„Von allem Weltverkehr abgeschnitten“

In Petra, wo er und seine Tochter am 24. April wegen eines heftigen Regengusses mehrere Stunden festsitzen, müssen sie rasten: „Wir speisten mit der Wirthsfamilie zusammen an einem Tische, und mussten uns mit dem Essen begnügen, welches die Hausfrau für jene zubereitet hatte. Die Speisen waren, wenn auch echt mallorquinisch mit vielem Gewürz, mit Zwiebeln und Knoblauch zubereitet, doch genießbar, wenigstens für einen nicht verwöhnten Gaumen, das irdene Geschirr und die Löffel und Gabeln sauber, das Tischtuch war reinlich, der Wein trinkbar, das Benehmen der Tischgenossen anständig, endlich die Zeche spottbillig – was also konnten wir in einem von allem Weltverkehr abgeschnittenen Pueblo mehr beanspruchen?“

Auf den Balearen-Inseln leben im ausgehenden 19. Jahrhundert gerade einmal 300 000 Menschen. Heute sind es viermal so viele. Mallorca ist damals eine ganz und gar landwirtschaftlich geprägte Insel und nicht auf anspruchsvolle Reisende vorbereitet. Zumal diese auch die ganz große Ausnahme sind: Vor Willkomm hat es nur wenige Deutsche nach Mallorca verschlagen, allesamt Forscher – Vogelkundler, Archäologen, Insektenkundler –, die wie ihn das wissenschaftliche Interesse antreibt.

Ausländische Besucher sind noch eine echte Attraktion: Willkomm sorgt für Aufsehen, wohin er auch geht. Seine Tochter erst recht. In der Klosterschule von Lluc etwa sehen sich die beiden plötzlich umringt von einer Jungenschar, „deren Neugier die Ankunft Fremder, offenbar keiner gewöhnlichen Wallfahrer, zumal der Anblick einer ,Señorita‘ in fremdartiger Tracht, in hohem Grade rege gemacht haben mochte“.

Erst Jahrzehnte später erkennen findige Mallorquiner das Potenzial der Insel als Reiseziel. Im Jahr 1903 eröffnet in Palma das „Gran Hotel“, die erste luxuriöse Unterkunft auf der Insel. Zwei Jahre später entsteht der Tourismusförderungsverband „Foment de Turisme“. Ein massentaugliches Urlaubsziel wird die Insel jedoch erst Jahrzehnte später. Die Fluggesellschaft Condor landet im Jahr 1956 zum ersten Mal auf der Insel, die Lufthansa gar erst im Jahr 1963.

„Finster und unfreundlich“

Heute werden pro Jahr mehr als 20 Millionen Passagiere an Mallorcas Flughafen abgefertigt, ein Großteil von ihnen kommt aus Deutschland. Die Insel präsentiert sich ihren Gästen meist ordentlich und herausgeputzt. In malerischen Bergdörfern hängt bunter Blumenschmuck an den Hauswänden, die historischen Bauwerke sind aufwendig restauriert, Straßenkehrer fegen täglich jeden Schmutz zusammen. Das war im Jahr 1873 noch anders. So klagt Willkomm immer wieder über das schäbige Aussehen der mallorquinischen Städte und Dörfer. Kaum ein Ort kommt bei ihm gut weg. Meist sind die Straßen „scheußlich gepflastert“, die Häuser vernachlässigt, der Eindruck ist „finster und unfreundlich“. An der Kathedrale in Palma herrsche auf der Stadtmauer, auf der noch mehrere Kanonen stehen, „abscheuliche Unreinlichkeit“. Eine besondere Erwähnung sind Willkomm der Weißwein von Binissalem wert („der beste der Insel“), die Ensaimadas, Mallorcas typische Schmalzschnecken („ein vortreffliches, nur sehr fettes Gebäck“) und die Paprikawurst Sobrassada. Außerdem der Sarg des 1311 verstorbenen König Jaumes II. in der Kathedrale, in den jedermann gegen Zahlung eines „Trinkgeldes“ einen Blick werfen darf („abscheulich“). Er bemerkt, dass es auf Mallorca keine Bettler gibt („der beste Beweis, dass Mallorca von einem fleißigen und durch Arbeit wohlhabend gewordenen Volke bewohnt ist“) sowie die Tatsache, dass am Karfreitag in Palma normal gearbeitet wird.

Ausschließlich Gutes weiß Willkomm über die Menschen zu berichten, denen er begegnet: Erwähnt sind vor allem Lehrer, Ärzte, Apotheker, Geistliche – nur die gebildeteren Personen beherrschen die spanische Sprache, die auch Willkomm spricht. Der gemeine Mallorquiner unterhält sich noch ausschließlich im inseltypischen Dialekt des Katalanischen. Immer wieder preist Willkomm die Gastfreundschaft der Inselbewohner. Stets hilft man ihm bereitwillig. In Pollença im Inselnorden etwa überlässt ihm ein wohlhabender Mann sein herrschaftliches Stadthaus samt Bediensteten zur freien Verfügung: „Eine gewiss ebenso uneigennützige als noble Gastfreiheit, wie ein Fremder solche in den vorgeschritteneren Kulturländern Europas schwerlich finden dürfte!“

Dem Buch folgen deutsche Abenteurer

Auch die Begegnung mit einigen Polizisten gestaltet sich durchaus freundlich. „Sie machten sich mit unseren Koffern und Reisetaschen wenig zu schaffen, desto mehr mit unseren Pflanzenpaketen, indem sie offenbar mehr aus Neugierde als aus Pflichtgefühl durchaus wissen wollten, wozu wir die Pflanzen gesammelt hätten. Erst als ich ihnen sagte, sie seien teils Arzneipflanzen, teils Futtergewächse, welche in unserer Heimat nicht wüchsen und die wir deshalb dorthin verpflanzen wollten, gaben sich die guten Leute zufrieden, schienen sogar sehr stolz darauf zu sein, dass auf den Balearen so viele ,yerbas buenas‘ (gute Kräuter) vorhanden seien.“

Die Pflanzen, die Willkomm auf Mallorca sammelt und die zum Teil noch niemand vor ihm wissenschaftlich beschrieben hat, tragen so klangvolle Namen wie „balearische Flockenblume“, „balearisches Alpenveilchen“ oder „balearischer Wundklee“. Sie dienen ihm später dazu, seine wichtigsten botanischen Werke zu vervollständigen, unter anderem die erste umfassende Pflanzenkunde Spaniens. Bis heute genießt der Forscher in dem Land zumindest in Expertenkreisen hohes Ansehen.

Und auch Mallorca als Reiseziel dürfte von Moritz Willkomm profitiert haben. „Während meines Aufenthaltes auf den Balearen gewann ich die Überzeugung, dass diese Inseln mehr, als es bisher der Fall gewesen, in Deutschland bekannt zu werden verdienen“, schreibt er. Tatsächlich nutzen in den folgenden Jahren zahlreiche andere deutsche Abenteurer, die sich zu einer Mallorca-Reise entschließen, seine Inselbeschreibungen. Denn Reiseführer, wie sie wohl auch in diesem Sommer fast jeder Urlauber im Reisegepäck haben wird, gab es damals nicht. Mallorca war eben noch ein wirklich abenteuerliches Reiseziel.