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Vom Sonnenfuchs geholt

„Literatur jetzt!“ ermöglicht die Begegnung mit Reisenden voller Witz und Selbstironie in Dresden.

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© Stefan Loeber

Von Undine Materni

Das kleine Mädchen wird unruhig, wenn der grauhaarige Mann auf der Leinwand spricht, es wackelt zwischen seinen Eltern hin und her, stößt mit dem Kopf gegen die Schulter der Mutter. Doch wenn die Kamera ihr ruhiges Auge auf den Fjord gerichtet hat, die Berge oder den Wald, sitzt es ganz still. Und hofft vielleicht auf einen Troll, eine Fee oder gar den Sonnenfuchs. „Solreven/der Sonnenfuchs“, ein Film über den norwegischen Dichter Kjartan Hatløy war am Samstagabend zweifellos einer der berührenden Höhepunkte des Literaturfestivals „Literatur jetzt“ im Deutschen Hygiene-Museum Dresden. Filmemacher Frank Wierke war mehrfach in den abgelegenen Ort Salbu am Åfjord in Westnorwegen gereist und hatte den Dichter zu den Orten begleitet, die für ihn von Bedeutung sind. Dabei erprobte Kjartan Hatløy sein Deutsch, das er sich durch die Lektüre von Hegel und Hölderlin selbst beigebracht hatte.

Dieser Film erzählt in eindringlichen Bildern von einem außergewöhnlichen Dichter, seinem Verhältnis zur Philosophie, Literatur, Landschaft, zum Kosmos. Seit 1996 veröffentlichte er zwölf Gedichtbände. Sein Debüt trug denselben Titel wie dieser Film. Sein Vater meinte, der Sonnenfuchs habe ihn geholt, wenn er sich im Gras von der Arbeit ausruhte. Frank Wierke ist etwas Seltenes gelungen: eine Annäherung an einen Dichter, ohne diesem zu nahe zu treten, und diesen gleichzeitig im großen Weltgefüge zu zeigen.

Wer wollte, konnte seinen Aufenthalt am Samstag beim Festival beliebig verlängern, um literarisch auf Reisen zu gehen. Zum Beispiel mit den zwei beherzten Redakteurinnen Esther Göbel und Juliane Schiemenz des Schweizer Magazins „Reportagen“. Das Magazin erlaubt sich den seltenen „Luxus“, Journalisten auf Reisen zu schicken, um jenseits von schnell gestrickten journalistischen Texten Beziehungen aufzubauen und Erfahrungen mit interessierten Lesern zu teilen. So reiste Juliane Schiemenz in die USA, um sich auf den Spuren der Kultserie „Twin Peaks“ von David Lynche und Mark Frost im Raum zwischen Fiction und Realität aufzuhalten – mit erstaunlichen Begegnungen und Beobachtungen. Denn David Lynch hatte in Snoqualmie gelebt, einem Ort in der Nähe von Seattle, in dessen Wäldern sich Massenmörder verstecken, und das Dunkle der Gegend an die Oberfläche geholt. Realität und Fiction sind dort auf eine Weise verwoben, wie an kaum einem anderen Ort der Welt.

Esther Göbel berichtete von ihren Recherchen, die sie nach Saudi Arabien geführt hatten, um mehr über das Leben von Frauen zu erfahren. Sie beobachtete Frauen im Frühstücksraum des Hotels, die sich hinter zwei Trennwänden vor den Blicken der Männer verstecken mussten. Und sie traf auch auf eine neue Generation selbstbewusster Frauen zwischen Snapchat und Gebetsteppich. Sehr angenehm war zu beobachten, wie diese jungen Journalistinnen bestrebt sind, das Reisen wieder seiner ursprünglichen Bedeutung zuzuführen, in dem das Begreifen, die Erfahrungen im Mittelpunkt stehen und nicht das schnelle, oberflächliche Erlebnis.

Von einer Reise eher wider Willen erzählte zu etwas späterer Stunde die quirlige und frisch mit dem Bayerischen Buchpreis dekorierte Autorin Lucy Fricke in ihrem vierten Roman „Töchter“. Zwei vom Leben etwas gebeutelte Freundinnen Anfang vierzig machen sich in einem alten, ölschluckenden Auto mit einem todkranken Vater auf der Rückbank auf den Weg in die Schweiz. Doch unterwegs gesteht er, dass es gar keinen Termin zum Sterben in der Schweiz gäbe, sondern dass er zu seiner ersten großen Liebe nach Italien will. Und da ist noch ein anderer Vater, der in Italien begraben liegt. Das Auto fahren sie gegen die Wand, sie trinken und rauchen, als würde es kein Morgen geben, sie lachen und heulen und versuchen herauszufinden, wieso sie am Leben sind. Lucy Fricke gelingt es, mit traumwandlerischer Sicherheit komisch zu sein, ohne zynisch zu werden. Diese Geschichte ist voller Witz und Selbstironie, nicht jedoch um sich an der Realität vorbei zu mogeln: „Am Ende starb man vielleicht während einer Ayurveda-Kur an einem Schlangenbiss, in London durch einen Verkehrsunfall, bei einem Terroranschlag an einem paradiesischen Strand und hatte nichts im Leben so richtig falsch gemacht.“