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Vom Schlag getroffen

Etwa jeder Vierte stirbt nach einem Hirninfarkt binnen eines Jahres. Eine gestufte Therapie kann dem vorbeugen – wie in Kreischa.

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© Ronald Bonß

Von Steffen Klameth

Zur Begrüßung reicht Reiner Scheffler die linke Hand. Seltsam ist das allenfalls für seinen Gegenüber; der 78-Jährige hat sich längst daran gewöhnt. Denn faktisch muss er alles mit links machen: essen, schreiben, den Stock halten. Dabei gab es Zeiten, in denen er nichts von alledem allein erledigen konnte – als Folge eines zweifachen Schlaganfalls. „Wir waren gerade aus dem Urlaub in Tschechien zurückgekehrt, da merkte ich plötzlich, wie mein rechtes Bein nach außen verdreht war“, erinnert sich der Rentner, der in Wiederau bei Rochlitz lebt. Seine Frau alarmierte den Notdienst, der brachte den Rentner ins Diakoniekrankenhaus nach Hartmannsdorf. Die Untersuchung bestätigte den Verdacht. In der Folgenacht sei er von einer Wärmewelle erfasst worden. „Danach war meine ganze rechte Seite bis zum Fuß gelähmt.“ Nach zwei Wochen Krankenhaus wurde der Patient in die Bavaria-Klinik Kreischa verlegt, dort folgten sechs Monate intensive Reha.

Dr. Ulf Bodechtel Bavaria Klinik Kreischa Der gebürtige Berliner arbeitet seit Mai 2016 als Chefarzt an der Klinik Bavaria in Kreischa. Er hat in Berlin Medizin studiert. Seine Ausbildung zum Facharzt für Neurologie absolvierte er am Dresdner Uniklinikum,
Dr. Ulf Bodechtel Bavaria Klinik Kreischa Der gebürtige Berliner arbeitet seit Mai 2016 als Chefarzt an der Klinik Bavaria in Kreischa. Er hat in Berlin Medizin studiert. Seine Ausbildung zum Facharzt für Neurologie absolvierte er am Dresdner Uniklinikum, © ronaldbonss.com
Dr. Andreas Bauer Bavaria Klinik Kreischa Der gebürtige Österreicher ist seit zweieinhalb Jahren Chefarzt an der Klinik Bavaria in Kreischa. Er hat in Wien studiert und verfügt über Facharztabschlüsse für Innere Medizin, Allgemeinmedizin, Notfallmedizin u
Dr. Andreas Bauer Bavaria Klinik Kreischa Der gebürtige Österreicher ist seit zweieinhalb Jahren Chefarzt an der Klinik Bavaria in Kreischa. Er hat in Wien studiert und verfügt über Facharztabschlüsse für Innere Medizin, Allgemeinmedizin, Notfallmedizin u © ronaldbonss.com

Die Klinik

Die Klinik Bavaria, südlich von Dresden am Ortsrand von Kreischa gelegen, gleicht aus der Ferne einem Schloss. Mit weniger Abstand denkt man eher an ein Grand Hotel. Genau genommen sind es mehrere Einrichtungen – ein Fachkrankenhaus mit dem Zentrum für fachübergreifende Intensivmedizin und die Rehaklinik mit dem Schwerpunkt für die neurologische Rehabilitation.

„Der Vorteil dieser Einrichtung ist, dass die Patienten nach der Behandlung im Akutkrankenhaus über unsere Intensivstation direkt in die Rehabilitation übergeleitet werden können“, sagt Dr. Ulf Bodechtel. Davon profitierten insbesondere Patienten mit Nervenschäden, da sie in der Regel mehrere Reha-Phasen durchlaufen. Umgekehrt hätten Patienten bei während der Reha auftretenden Komplikationen einen schnellen Zugang zur Intensivmedizin, ergänzt Dr. Andreas Bauer. Beide Chefärzte leiten gemeinsam den Krankenhausbereich.

Die Patienten

Wer von neurologischen Schäden hört, denkt zuerst an die Folgen eines Schlaganfalls. Tatsächlich bilden diese Patienten in der neurologischen Reha in Kreischa die größte Gruppe. Im Fachkrankenhaus machen sie dagegen nur ein Drittel aus. Hier komme die Mehrzahl mit einer septischen Enzephalopathie infolge einer schweren Infektion oder Neuropathie, erläutert Bodechtel. „Die meisten dieser Patienten werden bei der Aufnahme beatmet und sind nicht oder nur bedingt ansprechbar. Je länger die Erkrankung dauert, desto größer ist die Gefahr von Nervenschäden. Gleichzeitig wird der Körper immer schwächer – bis hin zur vollständigen Lähmung der Arm-, Bein- und auch der Atemmuskulatur. Mediziner sprechen dann von einem erworbenen Schwäche-Syndrom (CIP-CIM). „Die lange Liegedauer wirkt sich zusätzlich negativ aus“, sagt Bauer. Übrigens: Die Sepsis – umgangssprachlich auch als Blutvergiftung bezeichnet – gehört in Deutschland zu den häufigsten Todesursachen. Laut Kompetenznetz Sepsis verstirbt mehr als jeder dritte Betroffene daran.

Ein Schlaganfall wird durch eine plötzliche Durchblutungsstörung im Gehirn ausgelöst. Das Hirn bekommt nicht mehr genug Sauerstoff und Nährstoffe, die Nervenzellen sterben ab. Deshalb zählt bei Verdacht auf einen Schlaganfall jede Minute. In darauf spezialisierten Stationen (Stroke Units) untersuchen Ärzte mithilfe der Computertomografie, ob ein verstopftes Gefäß oder eine Hirnblutung für den Schlaganfall verantwortlich ist. Danach richtet sich dann die Behandlung.

Nach der Erstversorgung in einem Akutkrankenhaus werden die Patienten in ein spezialisiertes Krankenhaus oder in eine Reha-Klinik verlegt. In der Mehrzahl bleiben trotz Frühtherapie Schäden am Hirn zurück. Die Patienten benötigen dann eine spezifische neurologische Rehabilitation. Sie soll nach Möglichkeit eine Pflegebedürftigkeit verhindern bzw. mindern und den Weg zurück zu einem selbstbestimmten Leben bahnen.

Die Rehabilitation

Die neurologische Reha ist oft langwierig. Sie folgt einer eigenen Systematik und ist im Ablauf nicht mit anderen Reha-Maßnahmen vergleichbar. Grundlage ist ein Sechs-Phasen-Modell, das bereits in den 1960er-Jahren entwickelt wurde. Bodechtel: „Je nach Zustand des Patienten wird er einer bestimmten Reha-Phase zugeordnet.“ Die Einordnung erfolgt u. a. mithilfe des Barthel-Indexes. Damit kann beurteilt werden, wie selbstständig – beziehungsweise pflegebedürftig – ein Mensch ist. Essen und trinken, baden und duschen, an- und ausziehen, Harn- und Stuhlkontrolle, Mobilität und Treppensteigen: Für jede Fähigkeit werden Punkte vergeben. Das Maximum sind 100 Punkte. In der neurologischen Reha beginnen Patienten nicht selten mit null Punkten, schwerst betroffene Patienten haben sogar Minuspunkte. Je mehr Fähigkeiten – und damit Punkte – sie im Verlaufe der Reha erlangen, desto eher kommt der Zeitpunkt, an dem sie in die nächste Phase wechseln. „Die Prüfung durch die Ärzte erfolgt einmal pro Woche“, sagt Bodechtel.

Phase A: So wird die Akutbehandlung im Krankenhaus bezeichnet. Nach Aussage der Kreischaer Chefärzte dauert sie im Schnitt drei bis vier Wochen. Die Patienten sind lebensbedrohlich krank. Sie werden intensivmedizinisch versorgt und per Monitor überwacht. Fast alle sind in dieser Zeit noch vom Beatmungsgerät abhängig, viele benötigen zudem eine Dialysebehandlung. Um die Patienten frühzeitig an Therapien heranzuführen, bietet die Bavaria-Klinik auch die Möglichkeit einer Frührehabilitation im Krankenhaus. „Sobald die Patienten keine intensivmedizinische Betreuung mehr benötigen, können sie in die Phase B entlassen werden“, erklärt Bauer.

Phase B: In der Frührehabilitation werden Patienten aufgenommen, die wegen ihrer schweren Einschränkungen nicht belastbar sind und demzufolge nur eingeschränkt an der Behandlung mitwirken können. Sie werden oft noch künstlich ernährt und benötigen rund um die Uhr pflegerische Betreuung.

Phase C: Voraussetzung für die weiterführende Rehabilitation ist, dass der Patient weitgehend bewusstseinsklar ist und mehrere 30-minütige Therapieeinheiten pro Tag wahrnehmen kann. Bei vielen Aktivitäten ist er aber noch auf Hilfe angewiesen. „In der Phase C ist es das Ziel, dass die Betroffenen ihren Alltag wieder selbstständig meistern können“, erläutert Bodechtel. Dies könne sich oft über mehrere Monate hinziehen.

Phase D: Diese Phase entspricht einer Anschlussheilbehandlung. Die Patienten benötigen nur noch gelegentlich Hilfsmittel. Am Ende sollten sie ihr Leben trotz gewisser Einschränkungen wieder vollständig allein führen können.

Phase E: In dieser Phase leben Reha-Patienten in der Regel wieder zu Hause. Die Behandlung erfolgt tagsüber in einer ambulanten oder teilstationären Einrichtung. Dabei geht es vor allem um eine effektive Nachsorge, damit die Betroffenen in ihren Job zurückkehren oder einen anderen Beruf erlernen können bzw. als Rentner am sozialen Leben teilnehmen können. Bestimmte Maßnahmen können bis zum Lebensende notwendig sein.

Phase F: Wenn sich der Zustand der Patienten in den Phasen B und C trotz umfangreicher Therapien nicht weiter verbessert, müssen sie in Phase F verlegt werden. Die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe beschreibt diese Phase als „aktivierende, zustandserhaltende Langzeitpflege bei anhaltend hoher Pflegebedürftigkeit“. Die Behandlung erfolgt in spezialisierten Pflegeheimen oder auf Wachkoma-Stationen. Bestenfalls können diese Patienten die Rehabilitation in Stufe B, C oder D fortsetzen.

Die Therapien

Die Behandlung von Patienten mit neurologischen Schäden ist immer eine Kombination von ärztlichen, therapeutischen und pflegerischen Maßnahmen. „Von Phase zu Phase verschiebt sich das Gewicht, also weniger ärztliche und mehr therapeutische Betreuung“, sagt Dr. Bodechtel.

Anfangs gehe es vor allem darum, die Patienten von Organersatzsystemen wie der apparativen Beatmung oder einer Nierenersatztherapie (Dialyse) zu entwöhnen. Auch erste Übungen zur Wiedererlangung motorischer und kognitiver Fähigkeiten seien bereits auf der Intensivstation möglich. Dr. Bauer: „Unser Ziel ist es, dass die Patienten wieder selbstständig atmen, sprechen und essen können.“ In den folgenden Phasen wird das Therapiespektrum immer breiter und anspruchsvoller. Die Deutsche Rentenversicherung hat im Rahmen der Qualitätssicherung Studien ausgewertet und Therapiestandards für Schlaganfall-Patienten empfohlen. Bewährt haben sich demzufolge in der Phase D unter anderem die Bewegungstherapie, das Alltagstraining und die Therapie kommunikativer und Schluckstörungen.

Kliniken, die sich auf die neurologische Reha spezialisiert haben, müssen also eine Vielzahl von Therapien anbieten. Im Kreischaer Rehazentrum arbeiten Physio-, Ergo- und Atemtherapeuten, Logopäden sowie neuropsychologisch und klinisch orientierte Psychologen Hand in Hand. Die Physiotherapie beginnt beispielsweise frühzeitig mit einer passiven Mobilisation, später folgen unter anderem das Gang- und das Armtraining zur Schulung von Tätigkeiten des täglichen Lebens wie Duschen und Anziehen. Ergotherapeuten trainieren mit den Patienten das Schlucken und Greifen, Logopäden das Lautmalen und Sprechen. Auch innovative Geräte wie Computer, die von schwer beeinträchtigten Patienten mit den Augen gesteuert werden können, finden Anwendung. Bodechtel: „Die Patienten können damit wieder mit der Umwelt kommunizieren und die Technik auch zu Hause nutzen.“

Der Reha-Erfolg

„Am Anfang jeder Reha-Maßnahme steht eine realistische Prognose“, betont Dr. Bauer. Anhand des aktuellen Zustands und von Erfahrungswerten schätzen die Mediziner die Erfolgsaussichten ab. „Das Ziel ist eine maximale Selbstständigkeit, natürlich immer unter Berücksichtigung der Schädigung, des Alters und Begleiterkrankungen.“ Auf dieser Grundlage erfolgt dann die Planung der Behandlungen. „Dies wird immer mit den Angehörigen besprochen“, so Bodechtel. Im Vordergrund stehe aber der mutmaßliche Wille des Patienten. „Im Idealfall kann das Therapiekonzept im Verlauf der Behandlung mit dem Patienten abgestimmt werden.“

Wunder kann niemand vollbringen. Für die meisten ist die Reha aber der Weg zurück ins Leben. „Eine einseitige Lähmung nach einem Schlaganfall kann sich rückbilden“, nennt Ulf Bodechtel als Beispiel. Auch Patienten mit einem Schwäche-Syndrom hätten gute Prognosen, wenn das Gehirn nicht geschädigt sei. Am Ende müssten aber viele Patienten mit einer Behinderung – mal kleiner, mal größer – leben. Mit diesem Handicap leben zu lernen ist ebenso Teil der Rehabilitation. „Oft sind es schon kleine Fortschritte, die dem Patienten neuen Lebensmut geben“, berichtet Bauer. Die Perspektive eines Lebens im Rollstuhl oder eines dauerhaft gelähmten Armes könnte so ihren Schrecken verlieren.

Mitunter müssen auch die Ärzte ihre Prognose revidieren: „Wenn wir sehen, dass durch die Rehamaßnahmen keine weitere Verbesserung möglich ist, wird die Weiterversorgung zu Hause oder in einer geeigneten Pflegeeinrichtung organisiert.“ Ein kleiner Anteil der Patienten ist so schwer betroffen, dass er trotz aller Therapiebemühungen die Erkrankung nicht überlebt. In Deutschland erleiden jährlich rund 270 000 Menschen einen Schlaganfall, zwischen 20 und 30 Prozent von ihnen sterben innerhalb eines Jahres.

Reiner Scheffler aus Wiederau hat ein halbes Jahr gebraucht, ehe er die Reha-Klinik in Kreischa wieder verlassen konnte. Die Therapien hätten ihn ständig auf Trab gehalten, berichtet er. „Und sie haben mich so auf die Beine gebracht, dass ich noch was vom Leben habe.“ Anders als seine beiden Großmütter, die bereits mit Anfang 60 an den Folgen eines Schlaganfalls verstorben waren. Nur den rechten Arm wird der Rentner wohl nie mehr so bewegen können wie früher. Aber der Mann gibt die Hoffnung nicht auf: Vielleicht, so hofft er, wird er eines Tages wieder seinem Hobby Holzbau nachgehen können. Oder wenigstens einen Stift halten – mit rechts.

Lesen Sie am Donnerstag: Depression, Burn-out und Angststörungen betreffen schon junge Menschen. Wie hilft eine Reha, damit sie zurück ins Leben finden?

Im Video klärt die Rentenversicherung im Interview mit Peter Escher die wichtigsten Fragen rund um die Reha unter: www.szlink.de/Reha