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Verlorene Heimat

Beim Grenzbau zwischen der DDR und Westdeutschland mussten Menschen und Orte weichen. Eine Broschüre will an die Zwangsaussiedlungen in Sachsen erinnern. Es besteht weiter großer Forschungsbedarf.

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© dpa

Oelsnitz.Den Tag, als seine Eltern vom Hof mussten, hat Eberhard Wunderlich nicht vergessen. „Mein Vater stieg in den Wartburg, ich habe ihn das erste Mal in meinem Leben weinen sehen. Meine Mutter dagegen wollte sich nicht mehr umdrehen. Beide waren alt, da schlägt man woanders keine Wurzeln mehr“, erinnert sich der 83-Jährige.

Das landwirtschaftliche Anwesen seiner Familie in der fünften Generation stand in der Siedlung Hammerleithen, die 1974 zusammen mit angrenzenden Orten verschwand. 57 Familien waren betroffen, heute gehört das unbewohnte Gebiet zur Gemeinde Eichigt (Vogtlandkreis).

Wunderlichs Elternhaus fiel der letzten Welle der Zwangsaussiedlungen im DDR-Grenzstreifen zu Westdeutschland zum Opfer, wo Menschen seit den 1950er Jahren ihre Heimat verlassen mussten. Ihre Geschichten hält nun erstmals eine von Hobbyforschern erstellte Broschüre fest. „Manchem Hausbesitzer wurde auch die Nähe zur tschechischen Grenze zum Verhängnis“ - wie den Wunderlichs, sagt Initiator Eckard Scharf aus Oelsnitz (Vogtlandkreis). „Denn auch über diese sollte niemand entkommen.“

Verschwundene Dörfer und Regionen - die Broschüre stellt die Landstriche auf 70 Seiten dar, teils mit genauen Navigationspunkten oder QR-Code und Informationen, abrufbar über Smartphone. Die meisten Orte sind inzwischen schlecht zu finden. Scharf bezeichnet die vom Landratsamt mitfinanzierte Broschüre als Anfang. „Die Zuarbeiten und Aussagen der Zeitzeugen und das Fotomaterial sind umfangreich.“ 2017 plant er eine erste Wanderausstellung.

„Es sind wenig Relikte und Zeitzeugen übrig“, meint der 62-Jährige, der seit Jahren in der Tourismusbranche tätig ist. Die frühere DDR-Westgrenze liegt in Sachsen mit 43 Kilometern ausschließlich im Vogtland. Noch immer habe man nicht klären können, wie viele Menschen genau von Zwangsaussiedlungen betroffen waren.

Der Förderkreis des Oelsnitzer Julius-Mosen-Gymnasiums, dessen Vorsitzender Scharf ist, forscht dazu schon länger, auch mit Geld von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. „Damit haben wir Schülern das Leben am sogenannten Eisernen Vorhang näher gebracht“, erzählt Scharf. „Beunruhigend ist, wie wenig sie darüber wissen.“ Der Förderkreis fertigte Videos, Zeitzeugenberichte sowie Wandertouren und stellte sechs Gedenk-Stelen bei zerstörten Ortschaften auf.

Das Haus der Wunderlichs wurde 1974 zerstört. „Als es abbrannte, habe ich mich in einem Baum versteckt und Fotos gemacht. Die wollte mir aus Angst niemand entwickeln“, berichtet der Sohn. Die Familie bekam eine komfortable Wohnung im nahegelegenen Oelsnitz. „Mein Vater ist daran zerbrochen. Andere konnten bleiben, obwohl ihre Häuser näher an der Grenze standen - für ihn Schikane“, sagt er. Die Kriterien der Vertreibungen will Scharf noch näher untersuchen. Zuerst seien die Menschen, später die Häuser entfernt worden. „Ein Stück weit muss man von Willkür ausgehen.“

2002 pflanzte Wunderlich auf dem verlassenen Grundstück zwei Linden. „Genau da, wo früher welche standen, am Eingang zu unserem Wohnhaus.“ Infotafeln daneben erinnern an das Schicksal, die Gemeinde Eichigt hat die private Gedenkstätte mit einer Schutzhütte für Wanderer ergänzt.

In den betroffenen Kommunen wächst das Bewusstsein für die besondere Geschichte. Auch die Nachbargemeinde Triebel gehört dazu, dort wurde im Sommer ein „Wanderweg zu Schicksalsorten“ eingeweiht. „Unser Gemeinderat engagiert sich seit Jahren, dass die Schicksale nicht vergessen werden“, sagt Bürgermeisterin Ilona Groß (parteilos). Eine Station auf der 24 Kilometer langen Tour ist Wunderlichs Gedenkort in der Wüstung Hammerleithen. (dpa)