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Transport in den Tod: Das kurze Leben der Christa Gabriel

Weitere Opfer der Mordanstalt Pirna-Sonnenstein erhalten Gesicht und Geschichte – durch Pirnaer Schülerinnen.

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© Bundesarchiv Berlin

Von Jörg Stock

Pirna. Es geht in den Keller. Als sie zum ersten Mal hier herunter kam, erzählt Ricarda, da wurde ihr schlecht und schwindelig. Nicht länger als nötig würde sie sich hier aufhalten, ganz bestimmt nicht. Heute geht sie mit festem Schritt, nimmt Stufe um Stufe. Sie hat eine Schularbeit geschrieben über diesen Ort, über Menschen, die diese Stufen hinab stiegen, und die nie wieder herauf kamen. Es ist eine Schularbeit, die nicht nur die Lehrerin lesen soll. Der Massenmord auf dem Sonnenstein geht jeden an, findet Ricarda. „Ich hoffe einfach, dass die Menschen daraus lernen.“

Als „lebensunwert“ ermordet in seiner Heimatstadt Pirna: Willy Pomsel (28).
Als „lebensunwert“ ermordet in seiner Heimatstadt Pirna: Willy Pomsel (28). © Bundesarchiv Berlin
Wegen seiner Schizophrenie vergast: Alfred Johne (27).
Wegen seiner Schizophrenie vergast: Alfred Johne (27). © Bundesarchiv Berlin
„Hoffentlich haben die Menschen daraus gelernt.“ Die Schiller-Gymnasiastinnen Melanie Richter (16, links) und Ricarda Richter (15) im einstigen Tötungskeller, heute Teil der Gedenkstätte Sonnenstein.
„Hoffentlich haben die Menschen daraus gelernt.“ Die Schiller-Gymnasiastinnen Melanie Richter (16, links) und Ricarda Richter (15) im einstigen Tötungskeller, heute Teil der Gedenkstätte Sonnenstein. © Daniel Schäfer

Die Fakten sind bekannt: Zwischen Sommer 1940 und Sommer 1941 wurden in der zur Tötungsfabrik umfunktionierten Heilanstalt auf dem Pirnaer Sonnenstein mindestens 13 720 psychisch kranke und geistig behinderte Menschen umgebracht. Mit der „Aktion T 4“ wollten die Nationalsozialisten ihre Volksgemeinschaft von „unwertem Leben“ befreien. Vergast wurden Männer, Frauen, Kinder, die jüngsten zwei, die ältesten fast neunzig. Rund 5 000 Patientenakten sind erhalten. Aus diesem Konvolut destilliert die Gedenkstätte seit 2016 exemplarische Schicksale und macht daraus kleine Hefte. So erhalten die Opfer einen Namen und vor allem: ein Gesicht.

Bisher schrieb der Gedenkstättenleiter und promovierte Historiker Boris Böhm die Biografien meistenteils selbst. Nun hat er erstmals Schülern diese Arbeit überlassen. Pirnaer Schiller-Gymnasiasten haben monatelang medizinische Unterlagen durchforstet und Lebenswege für zehn neue Broschüren erforscht. Ein spannendes und vor allem gelungenes Experiment, findet Boris Böhm. Als Wissenschaftler neige man ja dazu, vor allem die Fakten zusammenzutragen, sagt er. „Die persönliche Sicht der Schüler macht die Biografien plastischer.“

Eine Biografie kannte man bereits in groben Zügen, bevor sich zwei der Schülerinnen, Ricarda Richter und Melanie Richter, an die Erforschung machten: die der Christa Gabriel. Das Bild des etwa vierjährigen Mädchens, in einem Kinderstuhl sitzend, steht im Raum der Biografien, gleich neben der einstigen Gaskammer. Das runde Gesicht mit den großen, fragenden Augen unterm Pony spricht die Besucher stets am stärksten an, bemerkte Boris Böhm. Die bis dato dürren Zeilen zu Christas Schicksal, so war er überzeugt, müssten dringend erweitert werden. Auch auf die Richter-Mädels, beide übrigens nicht verwandt, machte Christas Bild großen Eindruck. „Was sogar Kinder hier durchmachen mussten, ist total schlimm“, sagt Melanie. Christas Akte wurde ihre Aufgabe. Wie es dazu kam, dass das Mädchen mit nur sechs Jahren sterben musste, kann nun jeder nachlesen, auf elf mit Heftklammern gebundenen Druckseiten.

Geboren im Winter 1933 in Dresden, erfuhr Christa Gabriel anscheinend viel Liebe von ihren Eltern. Doch sie entwickelte sich deutlich langsamer als Sigrid, ihre Zwillingsschwester. 1936 wurde Christa in die Oberlausitz, in den Katharinenhof gebracht, ein christliches Haus für geistig behinderte Kinder und Jugendliche. Die Eltern schickten Naschereien und Anziehsachen, die Ärzte und Pfleger antworteten mit einfühlsamen Briefen. Doch die behindertenfeindliche Politik der Nazis hatte unter den Medizinern längst Raum gegriffen. Behinderte zu sterilisieren und schließlich sogar umzubringen, galt den Euthanasie-Anhänger als Gebot der Humanität.

Schon 1937 betrieb man die Sterilisation von Christas Vater. Seine Tochter lebte sich derweil im Katharinenhof ein, weinte weniger, wurde aufgeschlossener, laut Personal ein kleines, niedliches Mädelchen. Als sie fünf war, lief sie endlich zum ersten Mal alleine, was der Familie neue Hoffnung gab. Im September 1939 schrieb der leitende Arzt den Eltern mit „Heil Hitler!“, Christa sei in bester Obhut. Da war der Zweite Weltkrieg schon im Gange. Die Notizen in der Krankenakte wurden spärlicher. Der letzte Eintrag stammt vom 2. Oktober 1940: „Im Sammeltransport verlegt“. Vermutlich starb das Mädchen noch am selben Tag, wie fast vierzig andere Katharinenhofkinder, in der Sonnensteiner Gaszelle.

Melanie und Ricarda haben noch je ein weiteres Schicksal erforscht. Das des Alfred Johne, der, als geistesschwach und asozial abgestempelt, keinen Platz in Hitlers Reich haben durfte. Und das des Willy Pomsel, dem es, ruhelos umherwandernd, ganz ähnlich erging. Das Besondere an Pomsel: Er war gebürtiger Pirnaer, wurde also in seiner Heimatstadt ermordet. Man nimmt an, dass etwa 100 der auf dem Sonnenstein Getöteten aus Pirna und dem heute dazugehörigen Landkreis stammten. Die Stadt hat das Grauen vor ihrer Haustür viele Jahrzehnte verdrängt. Deshalb ist es heute wichtig, sagt Boris Böhm, die Verbindung zu ziehen. Am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer der NS-Zeit, werden Melanie und Ricarda Richter bei der offiziellen Kranzniederlegung in Pirna aus den neuen Biografie-Heften vorlesen.

Kranzniederlegung mit Lesung: Sonnabend, 27. Januar, 11 Uhr, Pirna, Gedenkstein an der Grohmannstraße.