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Spasibo, mein Lebensretter!

Nach 50 Jahren trifft Torsten Möbius aus Königsbrücker seinen russischen Lebensretter aus Kindertagen – die emotionale Begegnung hat Symbol-Charakter.

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Von Ina Förster

Der Ratssaal ist brechend voll. Über hundert Königsbrücker haben den Weg hergefunden an diesem Dienstagmorgen. Man tuschelt, man reckt die Köpfe. Sogar das Fernsehen ist da. Da, ganz vorn in der ersten Reihe sitzt er – der Lebensretter Valentin mit seiner Frau Irina. Extra angereist aus der Ukraine. Mitten aus dem Kriegsgebiet. Daneben der kleine Torsten von damals, der heute 51 Lenze zählt und in Dresden wohnt. Die beiden Männer Schulter an Schulter verbindet viel. Ein Menschenleben. Torstens Leben.

Torsten Möbius (l.) ist heute 51 Jahre alt. Zum 50. Jubiläum seiner Lebensrettung traf er den ehemaligen Sowjetsoldaten Valentin wieder. Dessen größter Wunsch war es, den kleinen Jungen von damals noch einmal zu sehen. Zum Festakt im Königsbrücker Rathaus
Torsten Möbius (l.) ist heute 51 Jahre alt. Zum 50. Jubiläum seiner Lebensrettung traf er den ehemaligen Sowjetsoldaten Valentin wieder. Dessen größter Wunsch war es, den kleinen Jungen von damals noch einmal zu sehen. Zum Festakt im Königsbrücker Rathaus © René Plaul
Der MDR verfolgte das Wiedersehen mit. Auch der Lebensretter sprach zum Publikum, Dietmar Wilhelm übersetzte.
Der MDR verfolgte das Wiedersehen mit. Auch der Lebensretter sprach zum Publikum, Dietmar Wilhelm übersetzte. © René Plaul

Familie Möbius hat den Lebensretter eingeladen. Eine ganze Woche lang möchte man sich näher kennenlernen. Es ist Zeit dafür. Und ein guter Zeitpunkt, noch einmal Danke zu sagen, finden alle. Vor 50 Jahren auf den Tag genau rettet der ehemalige Sowjetsoldat das damals 19-monatige Kleinkind vom Dach eines Königsbrücker Wohnhauses. Torsten war am 19. Juni 1968 aus der kleinen Luke des elterlichen Schlafzimmers geklettert. Wie er das anstellte, kann bis heute keiner nachvollziehen. Die junge Mutter Christine Möbius hatte nur kurz den Raum verlassen. Papa Rainer war im Garten. Als sie wiederkam, war Torsten weg. Und die schlimmsten Befürchtungen wurden wahr.

Als sie aus der Dachluke schaute, erblickte sie ihren kleinen Schatz. „Er hatte sich nach seinem Kopfüber-Rutsch am Schneegitter aufgesetzt. Zwischenzeitlich hatte er sogar gestanden“, erinnerte sich die Mutter noch heute an die wohl schlimmsten Augenblicke ihres Lebens. Die Rettungsaktion wurde zum Wettlauf gegen die Zeit. Nur ein rostiges Schneefanggitter hielt den Anderthalbjährigen noch. Während unten Feuerwehr, Polizei und viele Schaulustige zusammen kamen, handelte einer schnell und ohne nachzudenken: ser Sowjetsoldat Valentin. 22 Jahre jung. Stationiert mit Zehntausenden anderen in einer der größten Kasernen der sowjetischen Streitkräfte auf DDR-Boden.

Er hatte mit einem Freund gerade beim Friseur gegenüber Haarnetze gekauft. Mit viel Mut und besonnenem Handeln holte er Torsten Möbius vom Dach. Nur an einem Seil festgezurrt. Der andere Soldat hielt ihn fest. Das war gegen 16.30 Uhr. Vor 50 Jahren. Nachbarin Elfriede Künstler verfolgte damals vom gegenüberliegenden Haus alles mit. Wie der Kleine da gesessen hat. So allein. Die Seniorin spricht an diesem Dienstagvormittag auch im Rathaus noch einmal gestenreich davon. „Die Soldaten kamen wie aus dem Nichts. Und waren auch genauso schnell wieder verschwunden“, sagt sie. Ob sie ihre Ausgangszeit bereits überschritten hatten? Oder wie es eben echte Schutzengel tun?

Erst im Oktober 1968 bekam Valentin die Lebensrettermedaille im Ratssaal überreicht. Dann riss der Kontakt zwischen Familie Möbius und ihm ab. Er wurde versetzt. „Ein erneutes Treffen fand nie statt, da die deutsch-sowjetische Freundschaft eigentlich nicht gewollt war“, sagt Christine Möbius. Erst 1978 kam es durch einen Zufall wieder zu einem Kontakt. Da reiste ein Ehepaar aus Gräfenhainichen nach Ostasien. Sie hatten sich von der Gruppe entfernt und fragten einen Soldaten nach dem Weg.

Der konnte ein bisschen Deutsch und nahm das Ehepaar mit in seine Wohnung. Dort zeigte er ihnen die Fotoreihe von Torsten und seine Lebensrettermedaille. Es war Valentin. Er erzählte dem unbekannten Paar auch von seinem Wunsch, den Jungen noch einmal zu sehen. Und das Ehepaar gab das später an Familie Möbius weiter. Stoff für ein Buch oder einen Film? Eigentlich schon. Viele Königsbrücker erinnern sich am 19. Juni 2018 beim Festakt noch einmal an das Unglück. Und an die Zeiten, als die Stadt mit 5 000 Einwohnern Garnisonsstadt war. Als 30 000 sowjetische Soldaten in der Heide lebten. Nicht alles ging reibungslos vonstatten.

Es gab Schattenseiten, die gern verschwiegen wurden. Torstens Lebenrettung ist eines der guten Beispiele. Ein Erinnerungsfetzen, der die Herzen wärmt. Dieses Treffen verbindet alle – den aktuellen Bürgermeister, die Königsbrücker, die Zeitzeugen, die Familie. Valentin begrüßt alle mit „Guten Tag, liebe deutschen Freunde!“ Allein dafür bekommt er Applaus. Es geht ums Besinnen. Um wahre Werte. Dass man öfter dankbar sein soll. Dass hier ein Mensch einen anderen selbstlos rettete. Nicht mehr und nicht weniger.

Werner Lindner, stadtbekannter Küster und Geschichtskenner, hat das Treffen mit vorbereitet. Familie Möbius bat ihn darum. Er findet viele schöne Worte an diesem Vormittag. „Das hier ist deutsch-sowjetische Freundschaft – ohne Vorgabe“, meint er, nachdem sich Valentin und Torsten unter Tränen umarmt haben. Letzterem fallen die Dankesworte sichtlich schwer: „Heute begreife ich diese unglaubliche Geschichte erst richtig“, sagt er. Später trinken sie einen Wodka zusammen. Und laufen zusammen zum Haus, schauen hoch zum Dach, von dem Torsten fast fiel. Er feiert seitdem zweimal Geburtstag im Jahr.