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Tod in der Zwirnerei

Im Lager Sachsenburg wurden einst NS-Gegner gequält und ermordet. Jetzt entsteht hier Sachsens erste KZ-Gedenkstätte – wenn alle Beteiligten mitspielen.

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© Thomas Kretschel

Von Oliver Reinhard

Auf einen wie ihn haben die Wachen nur gewartet: Max Sachs, Sozialdemokrat, Journalist, Jude. Das Feindbild schlechthin für die SS-Besatzung des Konzentrationslagers Sachsenburg bei Frankenberg. Seit seiner „Überführung“ aus Dresden in die ehemalige Zwirnfabrik am Ufer der Zschopau am 23. September 1935 bekommt Sachs ihren Hass zu spüren. Sie bürden dem korpulenten Mann schwerste Arbeiten auf, zu denen er gar nicht in der Lage ist.

Sie machen sich über das „faule Schwein“ lustig, ertränken ihn fast, stecken ihn in Einzelhaft, treiben ihn erneut zur Arbeit, fahren den völlig Entkräfteten noch in der Schubkarre zum Häftlingsappell. Am 11. Tag wird Sachs in eine Latrine geworfen, herausgezogen, in einen Waschraum geschleift, entkleidet und so sehr „geschrubbt“, dass ihm die Haut in Fetzen vom Körper hängt, auf dem seine Quäler noch ihre Zigaretten ausdrücken. Als sie ihn an den Füßen packen, die Treppe hinunterschleifen und sein Kopf dabei auf jede Stufe prallt, hat Max Sachs‘ Leiden endlich ein Ende.

„Hier könnte es gewesen sein“, sagt Anna Schüller 83 Jahre später. Ihre Schritte wirbeln Staubflocken auf. Die Fusseln tanzen im Licht, das durch die Fenster in einen kahlen WC-Raum des ausgeweideten Fabrikgebäudes fällt. „Hier könnte sich die Latrine befunden haben, in der man Max Sachs damals gefoltert hat“, sagt Schüller. „Aber ganz genau lässt sich das leider nicht mehr feststellen.“ Jede Geschichte hinterlässt ihre Lücken. Auch die des Konzentrationslagers Sachsenburg. Wichtiger sind Anna Schüller jedoch jene vielen Lücken, die nicht zuletzt durch die 27-jährige Lehrerin aus Chemnitz und „ihre“ Jugendinitiative Klick nach jahrelanger Arbeit geschlossen werden konnten. Und dass ihr Ziel zum Greifen nahe zu sein scheint: „Dass hier ein Erinnerungsort entsteht. Eine Gedenkstätte aus der Bürgerschaft, aus dem Dialog heraus. Weil nur dann das Fabrikgelände ein lebendiger Ort werden kann, an dem auch aktive politische Bildung stattfindet.“

Sicher ist jedenfalls: Der Freistaat Sachsen wird im Zschopautal seine erste KZ-Gedenkstätte bekommen. An einem Ort, dessen historische Bedeutung für das NS-Terrorsystem erst jetzt in ihren bemerkenswerten Dimensionen erforscht ist. Der Rat von Frankenberg will es, das Land Sachsen, die Stiftung Sächsische Gedenkstätten. Am 20. Juni wird Oberbürgermeister Thomas Firmenich den Sitzungsbeschluss seiner Stadt verkünden. „Es gibt daran keinen Zweifel“, sagt der CDU-Politiker. „Wir ziehen das jetzt konsequent durch.“ Schon im kommenden Jahr könnte es losgehen.

Der komplizierte Weg zur Gedenkstätte hat ebenfalls seine Geschichte. Schon mehrfach wurde sie in den Medien erzählt. Gerne unter Schlagzeilen wie „Sächsische Amnesie“ in Form einer Geschichte von Anna Schüller als Jeanne d‘Arc von Sachsenburg. Als tapfere Kämpferin, die sich unermüdlich anstemmt gegen den Unwillen der Obrigkeit. Der fällt in dieser Robinhoodiade die Rolle der Gedenkstätten-Verhinderer zu. Eine Story, perfekt eingepasst ins ebenso populäre wie zugkräftige Bild vom „Rechten Sachsen“. Freilich hat auch diese Geschichte ihre Lücken. „Das ist zwar eine schöne Erzählung“, sagt Anna Schüller mit verständnisvollem Lächeln. „Aber so ganz recht ist mir das nicht. Ich bin überhaupt kein Typ, der sich in den Vordergrund drängt, im Gegenteil. Es ging mir nie um mich. Sondern immer nur um diesen Ort.“

Gleichwohl: Dass dessen Vergangenheit inzwischen zu einem erheblichen Teil aufgearbeitet ist, dazu hat die junge Pädagogin auch im Wortsinn beigetragen. Schon 2009 befiel sie eine hartnäckige Leidenschaft für die Geschichte Sachsenburgs. Zusammen mit Klick und der ebenfalls ehrenamtlichen Lagerarbeitsgemeinschaft erforschte sie das Gelände, veranstaltete Workshops, schrieb ihre Bachelor-Arbeit darüber – und drei Beiträge für das frisch gedruckte Buch „Konzentrationslager Sachsenburg“. Herausgeber sind die Stiftung Sächsische Gedenkstätten und das Hannah Arendt Institut für Totalitarismusforschung, namentlich Bert Pampel und Mike Schmeitzner.

„Die frühen und meist kleinen Konzentrationslager sind gegenüber den großen wie Buchenwald erst spät in den Fokus der Forschung gerückt“, erklärt Schmeitzner den langen Schlaf Sachsenburgs im Beinahe-Vergessen. „So wurde auch erst spät klar, dass es nicht irgendein kleines Lager war. Sondern das bedeutendste und am längsten betriebene frühe KZ in Sachsen.“ Davon gab es so viele wie nirgends sonst im „Dritten Reich“. Im Frühjahr 1933 saß fast jeder fünfte deutsche „Schutzhäftling“ in einem sächsischen Lager ein. „Die Region war eine Arbeiterhochburg“, erklärt Bert Pampel. „Damit war die Zahl jener auch besonders hoch, die gleich nach der Machtübernahme Hitlers Ende Januar 1933 als politische Gegner verfolgt wurden.“

Im Mai brachte man die ersten Häftlinge in die umgebaute Textilfabrik an der Zschopau. Bis zu 1 500 Menschen auf einmal wurden dort eingepfercht, Sozialdemokraten, Kommunisten, auch Zeugen Jehovas und Pfarrer. „Die schliefen hier zu Hunderten auf Etagenpritschen“, sagt Anna Schüller in die Leere der zweiten Fabriketage hinein. „Zur Verrichtung der Notdurft standen sämtlichen Häftlingen nur vier Toiletten zur Verfügung.“ Das dürfte nicht, wie heute, nur nach trockenem Staub gerochen haben. „Manche blieben hier Wochen, andere Monate. Viele wurden nach ihrer Entlassung erneut verhaftet und in größere KZ gesperrt.“

Anfangs herrschte in Sachsenburg die SA. „Die begriff sich teilweise noch als Umerziehungs-Instanz und wollte aus den Häftlingen, wie sie es sahen, ordentliche Nationalsozialisten machen“, so Bert Pampel von der Gedenkstiftung. „Das änderte sich spätestens, als 1934 die SS das Lager übernahm und die Wachen immer brutaler wurden.“ Der Mord an Max Sachs blieb kein Einzelfall.

Noch eine Besonderheit weist die Geschichte Sachsenburgs auf: Es war Ausbildungsstätte für die SS-Wachtruppen der KZ. Daraus rekrutierten sich die berüchtigten „Totenkopfverbände“, aus denen wiederum die Waffen-SS hervorging. „Damit ist das Lager historisch betrachtet eine Art Schnittstelle“, sagt Mike Schmeitzner. „Die hier gemachten Erfahrungen flossen ein in Aufbau und Betrieb der großen KZ wie Sachsenhausen oder Mauthausen.“ Was manch Gefangener, der wie der „Nackt unter Wölfen“-Autor Bruno Apitz nach der Auflösung von Sachsenburg 1937 auf eines dieser Großlager verteilt wurde, am eigenen Leib feststellen musste ... Zur Fabrik zurückgebaut, produzierte das Ex-Konzentrationslager Fallschirmseide für die Wehrmacht. In der DDR war es wieder Zwirnerei. Doch schon 1945 wurde dort eine Erinnerungstafel angebracht, 1957 ein erstes „Ehrenmal für die Opfer des Faschismus“ eingeweiht und 17 Jahre darauf ein Gedenkraum in der Fabrik eröffnet. Eine kleine Dauerausstellung und ein Diavortrag vermittelten den Besuchern die Historie des Ortes und erklärten ganz im Sinne der SED-Geschichtsideologie sämtliche ehemalige Insassen zu „Antifaschisten“. 1990 musste die Fabrik und mit ihr die „Gedenkstätte“ schließen. Glaubt man der Geschichte von der einsamen Kämpferin, dann geschah seither, seit der Ort 2009 das Interesse einer jungen Abiturientin weckte: nichts.

„So war das natürlich nicht“, sagt Anna Schüller. Immer wieder hat es seit 1990 Versuche von Bürgern gegeben, die alte Gedenkstätte neu zu eröffnen. Doch alle Ansätze blieben im Streit stecken. Eine kleine Ausstellung im Schloss oberhalb der Fabrik war bis 2008 zu sehen. „Ich habe im Jahr darauf mitbekommen, dass aus den Reihen der ,Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes’ die Lagerarbeitsgemeinschaft entstand und sich um die Erinnerung kümmern wollte. Das hat mich neugierig gemacht“, so Anna Schüller.

Auch auf dem Gelände selbst hatte 2006 eine kleine temporäre Schau die KZ-Geschichte reflektiert. „Allerdings ohne Reaktion der Stadt Frankenberg“, erinnert sich Historiker Mike Schmeitzner. Immerhin befasste sich der Stadtrat 2009 mit einem Gedenkstättenkonzept, das jedoch nicht umgesetzt wurde. Offiziell aus Kostengründen und wegen mangelnden Interesses der Anwohner. Offenbar auch, weil man befürchtete, Neonazis könnten eine Gedenk- als Weihestätte missbrauchen.

Dennoch geriet die Angelegenheit allmählich in Bewegung. „2011 und 2012 haben wir erste Workshops veranstaltet“, erzählt Anna Schüller. „Dabei gab es auch ein wenig Unterstützung von der Stadt und dem Oberbürgermeister.“ Zur gleichen Zeit verabschiedete der Landtag ein Gesetz, das Sachsenburg in den Verantwortungsbereich der Stiftung Sächsische Gedenkstätten stellt.

Trotzdem geschah, in der Wahrnehmung kritischer Beobachter, immer noch zu wenig. Oder zu langsam. „Wir hätten uns schon etwas mehr Entschlossenheit vonseiten der Stadt und der Stiftung gewünscht“, räumt Anna Schüller ein. Für Sachsens Wissenschaftsministerin Eva-Maria Stange indes sind „fünf Jahre Diskussionen nicht zu viel, wenn es darum geht, eine Gedenkstätte zu errichten, die auf solider Basis jahrzehntelang dort Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit leisen soll.“ Tatsächlich mussten in langen Verhandlungen erst die komplizierten Eigentumsverhältnisse geklärt, der Bestand des heruntergekommenen Gebäudes mit Stiftungsmitteln gesichert, dessen Geschichte wissenschaftlich erforscht – und das Konzept für eine Gedenkstätte erarbeitet werden. Ebenfalls mit Mitteln der Stiftung, im Auftrag der Stadt. Dessen Autorin: Anna Schüller. Das Ergebnis liegt nun vor. Für Ministerin Stange ist es „eine geeignete Grundlage für die Errichtung einer Gedenkstätte“.

Kann es also losgehen? Ja. Wenn der Stadtrat am 20. Juni den Beschluss fasst; Land und Stiftung dürfen laut Gesetz nur unterstützend und fördernd wirken. Bundesmittel stehen in Aussicht, die Landesmittel gelten als sicher, und den Anteil von Frankenberg – zehn Prozent – „können wir stemmen“, so OB Firmenich. Nach vorsichtigen Schätzungen wären das mindestens 1.2 Millionen Euro für die Herrichtung eines Gebäudes plus mindestens 100 000 Euro jährliche Betriebskosten. Auch Anna Schüller ist erleichtert. Einziger Wermutstropfen: der Gedanke, man könne sich aus Kostengründen für die Minimalversion einer Gedenkstätte entscheiden. „Ein bisschen Platz braucht man schon, wenn man Schulklassen mit 25 Kindern einladen will“, sagt die Lehrerin. „Und wenn man wirklich politische Bildung unter Beteiligung der Bevölkerung realisieren möchte.“

Denn, auch das erzählt die Geschichte des Konzentrationslagers Sachsenburg: Die Stadt selbst hat vom KZ reichlich profitiert. Die Häftlinge mussten Ufer befestigen, Straßen bauen, Wohnhäuser im Ort errichten. Manch Handwerker bekam Aufträge von der Lagerleitung. Nicht zu vergessen das Geld der SS, das die Kassen von Gastronomen und Ladenbesitzern klingeln ließ.

Entsprechend vorwurfsvoll kommentiert Frankenbergs Erster Bürgermeister Ehrhardt Weichelt am 30. Juni 1937 in seinem Brief an Gauleiter Martin Mutschmann den Beschluss zur Schließung des KZ: „Die Truppe und das Lager sind im Laufe der Zeit zu einem wirtschaftlichen Faktor für die Stadt Frankenberg und die Gemeinde Sachsenburg geworden, so daß deren Weggang einen wesentlich unmittelbaren und mittelbaren Verlust bedeutet.“

Buchtipp: Bert Pampel / Mike Schmeitzner (Hrsg.), Konzentrationslager Sachsenburg (1933 – 1937). Sandstein-Verlag, 464 S., 25 Euro