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Sterben die Dörfer aus?

Eine Studie empfiehlt „Sterbebegleitung für ausblutende Gemeinden“. Eine Provokation für viele Bürgermeister.

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© E. Kamprath

Von Franz Werfel

Von ausblutenden Regionen war die Rede, von Schwarmstädten und versteckten Perlen. Klangvolle Begriffe für eine einfache Analyse, die vor einem Jahr für viel Wirbel in Sachsen und auch im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge sorgte.

Im Auftrag der Sächsischen Aufbaubank sowie der Verbände der Wohnungsgenossenschaften und der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Sachsen hatte das Berliner Empirica-Institut für Wirtschaftsforschung eine Studie erarbeitet. Darin analysierten die Forscher, von wo nach wo Bürger ihren Wohnort wechseln. Die Überlegung war: Wachsende Orte haben gute Chancen, sich positiv zu entwickeln, schrumpfende Gemeinden könnten bald aussterben. Grundlage für die Analyse waren Zahlen des Statistischen Landesamtes von 2009 bis 2014. Seitdem wurden die Ergebnisse in vielen Orten diskutiert, kürzlich in Schmiedeberg. Dorthin hatte Landrat Michael Geisler (CDU) eingeladen. Die SZ fasst die wichtigsten Fakten zusammen.

Was waren die wichtigsten Ergebnisse der Schwarm-Studie?

Die Autoren erkannten: Vor allem junge Leute konzentrieren sich in Sachsen auf vier Schwarmstädte: Leipzig, Dresden, Chemnitz und Freiberg. Zu den Wachstumsstädten zählten die Forscher im Landkreis Pirna, Freital, Heidenau und Kreischa, wobei die Gründe hierfür verschieden sind. Den Autoren zufolge punktet allein Pirna mit einer eigenen Attraktivität. Alle vier Orte haben mehrere Pluspunkte gemeinsam: Arbeitsplätze, bezahlbaren Wohnraum und die Nähe zu Dresden. Vor allem Freital gewinnt Neubürger hinzu, weil die Wohnpreise in Dresden steigen. Zugleich ist der Weg zur Arbeit in Dresden kurz.

Des Weiteren fanden die Analysten versteckte Perlen wie Döbeln oder Bischofswerda. Diese Orte verlieren zwar in absoluten Zahlen Einwohner. Sie nehmen aber aus ihrem Umland neue Bürger auf. Im Landkreis konnten die Autoren keine versteckten Perlen entdecken. Klar ist aber schon heute: Dippoldiswalde und Sebnitz könnten sich in diese Richtung entwickeln.

Die meisten Orte im Landkreis bezeichnen die Forscher als „ausblutende Orte“. Dazu zählen etwa Altenberg, Neustadt, Klingenberg. Betrachtet wurden nur Orte, die mindestens 5 000 Einwohner haben. „Die Ergebnisse für Sachsen und den Landkreis entsprechen denen im Bundes-Trend“, sagte Lukas Weiden vom Empirica-Institut. Für ihre Ausbildung gehen junge Leute gern in größere Städte. Doch bereits wenn sie eine Familie gründen wollen, suchen sich manche Wohnraum in kleineren Orten. Die Zahlen zeigten auch: Es ist nicht mehr so, dass die Bürger Ostdeutschland scharenweise verlassen. „Auch weite Teile Westdeutschlands verlieren Einwohner, während es gleichzeitig in Ostdeutschland Schwarmstädte gibt“, schreiben die Autoren. Ihr Fazit: Das Schwarmverhalten kann man nicht aufhalten. Aber Schwärme können auch weiterziehen, wenn sie andere attraktive Orte finden.

Wie wurden diese Ergebnisse in der Region aufgenommen?

Gerade das Fazit der Studie, in dem die Autoren eine „Sterbebegleitung“ für ausblutende Gemeinden wie Altenberg und Klingenberg empfahlen, sorgte für Empörung und Diskussionen. Mehrere Bürgermeister erschraken über die Studie und befürchteten, in ihren Orten keine Investitionen mehr zu erzielen. Marode Schulen oder alte Straßen nicht mehr zu sanieren, wie es die Autoren empfahlen, ist für sie jedenfalls keine Lösung.

Wie bewertet der Freistaat die Ergebnisse?

Die Landesregierung war dem Vernehmen nach über die Studie verärgert. Das lag vor allem an den Empfehlungen der Autoren. „Die Landesregierung strebt an, dass die Bürger in allen Regionen gleich gut leben können“, sagte Max Winter, Abteilungsleiter für Landesentwicklung im sächsischen Innenministerium. Die aktuelle Bevölkerungsprognose des Freistaats zeige, dass der ländliche Raum langsamer schrumpft, als noch vor fünf Jahren gedacht. Für den Landkreis zeigt die Prognose bis 2030 ein Schrumpfen von derzeit rund 246 000 Einwohnern auf 241 000 bis maximal 231 000. „Ganze Gemeinden aufzugeben widerspricht unserer Planung und ist realitätsfern“, sagte Winter. Henning Kuschnig, Referatsleiter für ländliche Entwicklung im Umweltministerium, ergänzte: „Wir müssen den ländlichen Raum so ausbauen, dass Familien gern dort wohnen.“ Da im Grundgesetz geregelt sei, dass jeder Mensch sich frei bewegen und seinen Wohnort wählen darf, könne das Land schon deshalb kein Dorf aufgeben. „Das wollen wir nicht einmal denken“, so Kuschnig.

Was können die Städte und Dörfer im Landkreis von der Diskussion lernen?

Auch schrumpfende Orte brauchen weiterhin Investitionen. Zum Beispiel überlegen alle Gemeinden im Landkreis derzeit, wie sie am besten schnelles Internet verlegen – um dabei wirklich jeden Bürger mitzunehmen. Orte wie Dippoldiswalde, Tharandt, Bannewitz, Sebnitz und Neustadt sollen ein Anker für schrumpfende Regionen sein. „Sie müssen ihre Funktion vom Gesundheitswesen bis zum Einzelhandel für die ganze Region stärken“ sagt Lukas Weiden. Dass die Begriffe möglicherweise zu provokant waren, sieht auch der Verband der Wohnungswirtschaft ein. „Mit ihrem Fazit ist die Empirica AG übers Ziel hinausgeschossen“, sagt Verbandssprecher Alexander Müller. „Unser Verband hat ja selbst großes Interesse daran, dass es den Leuten gut geht und sie auch auf dem Land gern leben wollen.“