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Sprachlose Kinder

Zu Fremden sagen sie keinen Ton, zu Hause plappern sie hemmungslos. Mutismus wird oft verkannt, ist in Spezialpraxen in Sachsen aber behandelbar.

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© Westend61/dpa

Von Stephanie Wesely

Oft fällt es den Erziehern zuerst auf. Selbst nach Monaten der Eingewöhnung sprechen die Kinder in der Kita kein Wort – oft nicht einmal mit Gleichaltrigen. Die Eltern fallen dann buchstäblich aus allen Wolken, denn zu Hause sind ihre Kinder meist ganz anders: Sie reden sehr viel und verhalten sich oft sogar diktatorisch – von Kontaktschwäche keine Spur. Dieser Gegensatz ist typisch für die Krankheit selektiver Mutismus. Etwa sieben von tausend Kindern leiden daran. Selektiv bedeutet: Sie sind nicht völlig sprachlos, sondern verweigern sich nur Fremden gegenüber.

„Solche Kinder werden von Gleichaltrigen oft gemieden oder sogar gemobbt, auch Erwachsene halten sie für bockig oder schlecht erzogen. Das kann weitreichende psychische Folgen haben“, sagt Petra Frießnegg, Logopädin der Mutismus-Schwerpunktpraxis in Hoyerswerda und Sprecherin des Vereins Mutismus-Selbsthilfe.

Die Zahl der Behandlungen habe in den letzten Jahren zugenommen. Für die Logopädin ist das aber eher ein positives Zeichen, dass die Krankheit bekannter geworden ist und ernster genommen wird. Mutismus sei keine charakterliche Besonderheit oder Laune, sondern eine psychische Erkrankung, eine Angststörung. „Und sie wächst sich nicht aus. Einfach abzuwarten, bis das Kind wieder von selbst anfängt zu sprechen, ist aus medizinischer Sicht ein Kunstfehler“, sagt Frießnegg. Denn im Laufe der Jahre kommen zur Sprechangst meist andere Phobien oder Depressionen hinzu, das erschwert die Therapie. „Je früher die Erkrankung behandelt wird, umso erfolgreicher sind wir damit.“

Zwei Schwerpunktpraxen in Sachsen

Die beste Zeit dafür sei das Vorschulalter. „Dann gelingt es uns meist innerhalb von drei Monaten, das Kind wieder zum Sprechen zu motivieren. Unsere Erfolgsrate liegt bei fast 100 Prozent“, sagt sie. In Sachsen gibt es zwei Mutismus-Schwerpunktpraxen – in Hoyerswerda und Leipzig, eine Reha-Fachklinik im erzgebirgischen Thalheim und neun Logopädiepraxen, die sich auf die Erkrankung spezialisiert haben. Um dort behandelt zu werden, brauchen die Kinder eine Verordnung, zum Beispiel vom Kinderarzt.

Die Ursachen dieser Sprachblockade sind noch nicht vollständig geklärt. „Meist liegt eine genetische Veranlagung vor. Der Begründer der spezifischen Mutismustherapie, der Pädagoge Boris Hartmann, hat für eine Untersuchung 357 Eltern mutistischer Kinder befragt. In 346 dieser Familien litt zumindest ein Elternteil an Angst, Depressionen oder extremer Schüchtern-
heit – das sind 97 Prozent. Doch Petra Frießnegg zufolge können auch traumatische Situationen, Verluste oder die Trennung der Eltern dazu führen, dass Kinder plötzlich nicht mehr sprechen. In diesen Fällen handelt es sich aber meist um totale Sprachblockaden – nicht nur selektiv Fremden gegenüber. Mädchen sind häufiger betroffen als Jungen, besonders aber Kinder, die mehrsprachig aufwachsen.

Mutismus wird immer noch verkannt – auch von Ärzten. Sie setzen die Sprachblockade gleich mit Autismus oder Schüchternheit. Doch anders als Autisten können Mutisten Emotionen zeigen und enge Beziehungen eingehen. So haben sie oft ein sehr inniges Verhältnis zu ihren Eltern, erleben aber fremde Menschen als extrem beängstigend, sodass sie dort nicht sprechen, nicht einmal nach einer langen Eingewöhnungszeit. Schüchternheit hingegen vergeht, je mehr die Kinder Vertrauen zum anderen aufbauen. Dabei lässt sich die Krankheit recht einfach diagnostizieren, sagt Frießnegg.

Vom Geräusch zum ganzen Satz

Egal, in welchem Alter: Hat sich der Anfangsverdacht auf selektiven Mutismus bei ihrem Kind erhärtet, sollten Eltern professionelle Hilfe suchen. Dem Impuls, Druck zu machen, gibt man besser nicht nach. Denn Druck verstärkt die Abwehr, sagt die Logopädin. „Viel verbreiteter sei bei den Eltern aber das Gegenteil: Sie haben es sich angewöhnt, für ihre Kinder zu antworten und fungieren als ihr Sprachrohr.“ Damit machten sie es ihnen zu leicht. Die Kinder hätten gar keinen Grund mehr, selbst zu sprechen. „Wir Therapeuten nennen das einen Krankheitsgewinn. Und der ist immer kontraproduktiv“, sagt sie.

Das Gleiche gelte für sogenannte Nachteilsausgleiche, auf die zum Beispiel Schulkinder mit Mutismus Anspruch hätten. Sie könnten von mündlichen Noten befreit werden. „Doch auch das ist ein Krankheitsgewinn, weil es dem Kind Vorteile anderen gegenüber verschafft. Warum soll ein Kind seine Sprechangst behandeln lassen, wenn es mit dieser Krankheit viel bessergestellt ist?“ Einige Erleichterungen machten Frießnegg zufolge aber durchaus Sinn. Um nicht vor der Klasse ein Gedicht aufsagen zu müssen, könne man anbieten, es als Whatsapp-Nachricht aufzunehmen und dem Lehrer zu übergeben. Diese Brücken gelte es aber immer weiter abzubauen.

„Um jemals wieder zu sprechen, müssen Mutisten erst einmal ihre Stimme akzeptieren lernen, wissen, wie sie überhaupt klingt. Davor haben viele Betroffene Angst“, sagt Susann Langenhahn, Logopädin der Reha-Fachklinik in Thalheim. „Wir führen sie langsam heran, beginnen zunächst mit Geräuschen und Lauten, die zuerst im Chor, dann allein nachgeahmt werden: das Summen einer Biene, das Zischen einer Dampflok und so weiter. Nach den Geräuschen folgen Silben, dann das Antworten mit Ja oder Nein. Nicken oder Kopfschütteln akzeptieren wir nicht.“ Am Ende stehen kurze Sätze und sogar Gespräche. Die Behandlung in der Klinik ist zeitlich befristet, sie dauert etwa sechs Wochen. Sie ist dort angezeigt, wo keine Praxis in der Nähe ist und das Kind deshalb keine Möglichkeit hat, kontinuierlich behandelt zu werden. Wichtig sei Petra Frießnegg zufolge auch nach einer Reha die Weiterbetreuung. Denn die kleinste Veränderung, ein neuer Lehrer oder Erzieher zum Beispiel, könnte einen Rückfall bedeuten. „Wir üben mit den Kindern regelmäßig das Sprechen in fremder Umgebung, dann verlernen sie es erst gar nicht wieder. So lassen wir sie telefonieren, im Laden etwas verlangen oder nach dem Weg fragen“, sagt sie.

Je größer der Mut wird, desto mehr verschwindet das Schweigen. Größere Kinder markieren vor der Therapie ihre Sprechangst auf einer Skala. „Auf einer Spanne zwischen eins und zehn wählen sie oft elf. Nach ein paar Wochen sind wir dann bei sieben oder drei. Die Skalen werden immer kürzer und daran sehen sie selbst ihren Erfolg“, sagt sie. „Kleine Kinder malen zu Beginn Bilder mit Gespenstern, die den Mutismus symbolisieren. Am Anfang der Therapie ist das Kind ganz klein und das Gespenst riesig groß“, erklärt die Logopädin aus Hoyerswerda. „Je weiter wir arbeiten, desto kleiner wird das Gespenst, und das Kind wächst. Wenn dieser Punkt erreicht ist, verbrennen wir das erste Bild, damit wir wissen: Da müssen wir nie wieder hin, das gibt’s nicht mehr.“ (mit dpa)

Zertifizierte Behandler in Sachsen findet man über die TU Dortmund (Link 1) und den Verein StillLeben (Link 2):

www.sz-link.de/mutismus1
www.sz-link.de/mutismus2