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Sophias letzte Reise

Die Studentin aus Leipzig wollte nur zu ihrer Familie nach Amberg. Der Lkw, der sie mitnahm, hielt später an einer Tankstelle in Spanien.

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© Jesus Andrade

Von Ulrich Wolf, Sven Heitkamp (Leipzig) und Martin Dahms (Madrid)

Irgendwo im Nirgendwo in den südlichen Ausläufern der Pyrenäen, zwischen den Dörfern Ilarduia und Egino im Baskenland, liegt jener Ort, an dem die letzte Reise einer jungen Frau aus Leipzig endete. Es ist eine Tankstelle des spanischen Ölkonzerns Cepsa. „Alles spricht dafür, dass es sich um den Leichnam der Gesuchten handelt“, erklärt am Freitag ein Sprecher der Ertzaintza, der baskischen Regionalpolizei. Die „vorläufige Identifikation“ des Leichnams sei „positiv“.

Die 28-Studentin wird seit einer Woche vermisst. Sie war vorigen Donnerstag von Leipzig aus mit einem Lkw in Richtung ihrer bayrischen Heimat getrampt. Dort kam sie aber nie an.
Die 28-Studentin wird seit einer Woche vermisst. Sie war vorigen Donnerstag von Leipzig aus mit einem Lkw in Richtung ihrer bayrischen Heimat getrampt. Dort kam sie aber nie an. © Polizei

Die Gesuchte ist Sophia Lösche, 28 Jahre, Studentin der Germanistik in Leipzig. Am Donnerstag vergangener Woche hatte sie sich von einem Autohof in Schkeuditz an der Autobahn 9 per Autostopp auf den Weg nach Bayern gemacht. Doch sie kam nie an. Eine Kurznachricht, verschickt über ihr Handy, irgendwann gegen 21 Uhr, war das letzte Lebenszeichen von ihr.

Heute weiß man: In Schkeuditz ist sie in einen blauen Lastwagen der marokkanischen Spedition Benntrans gestiegen. Er kam aus dem Gewerbegebiet „Am Gerichtsweg“ in Taucha, war zuvor am Güterverkehrshafen in Nürnberg unterwegs, hatte am Mittwochfrüh, den 12. Juni, die französisch-deutsche Grenze bei Breisach am Rhein überquert. All das geht aus dem Fahrtenprotokoll des Lkw hervor, das der Sächsischen Zeitung vorliegt. Anhand dessen lässt sich nahezu minutiös nachvollziehen, wie jener Lastwagen gefahren ist, in den Sophia Lösche eingestiegen war, doch offensichtlich nicht mehr verlassen sollte.

Die Studentin stammt aus Amberg in der Oberpfalz, lebte jedoch auch eine Zeit lang in Pommelsbrunn bei Nürnberg, ging in Hersbruck zur Schule. Als Tramperin pendelte sie regelmäßig zwischen Leipzig und ihrer Heimatstadt. Die junge Frau engagierte sich politisch und gesellschaftlich.

In Bamberg, wo ihr Bruder Chef der Grünen ist und Mitglied des Kreistags, war sie 2014 zur Vorsitzenden der SPD-Nachwuchsorganisation Jusos gewählt worden. Seit 2016 besuchte sie mehrmals die griechische Insel Lesbos, wo sie eine Flüchtlingshilfsorganisation unterstützte. Über ihre Erfahrungen dort referierte sie beispielsweise Ende März im Paulaner-Gemeindehaus in Amberg. Bei diesem Vortrag sagte sie: „Ich möchte überall hinreisen können. Ich möchte die Welt sehen und erleben“. Das solle für alle gelten. „Da darf man auch nicht zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtling unterscheiden.“

Der Lkw ihrer letzten Reise verlässt am 14. Juni um 18.16 Uhr den Autohof in Schkeuditz. Wenige Minuten vor halb zehn fährt der Transporter auf den Lastwagen-Parkplatz „Parking TIR“ bei Plech in Oberfranken. Dort steht er mehr als zwei Stunden.

Warum? Wird Sophia Lösche dort getötet?

Trotz einer intensiven Suche wenige Tage später sollte die Polizei ihre Leiche dort nicht finden. Am Freitag jedoch teilen das Polizeipräsidium Oberfranken und die Staatsanwaltschaft Bayreuth gemeinsam mit, die „Hinweise auf einen möglichen Tatort in Oberfranken“ hätten sich verdichtet. Man übernehme fortan die Ermittlungen, die bislang ihre Kollegen in Leipzig geführt hätten.

Eine Woche zuvor, es ist immer noch Donnerstag, der 14. Juni, fährt der Lkw der Benntrans-Spedition um 23.40 Uhr wieder auf die A 9 in Richtung Nürnberg. Er stoppt aber bereits 40 Minuten später wieder: Das Fahrtenbuch gibt als Halt die Hersbrucker Straße 50-52 in Lauf an der Pegnitz an. In dem Gebäude an der Bundesstraße 14 ist das Jobcenter Nürnberger Land untergebracht, der Fluss Pegnitz mäandert ganz in der Nähe vor sich hin.

Sophias Bruder Andreas teilt später in sozialen Netzwerken mit, er habe Kontakt mit dem Fahrer gehabt. Der habe ihm erzählt, seine Schwester sei an der Ausfahrt 49 der A 9 (Lauf/Hersbruck) ausgestiegen. Dennoch wird die Polizei auch in dieser Umgebung keine Spur von Sophia entdecken. Sogar die Pegnitz haben die Beamten abgesucht.

Erst neun Stunden später, es ist Freitagmorgen vor einer Woche, verlässt der Lkw wieder Hersbruck. Offensichtlich hat der Fahrer dort geschlafen. Zu der Zeit meldet Andreas Lösche seine Schwester als vermisst, organisiert eine eigene Suche bei Facebook, Twitter & Co.

Gegen 15 Uhr rangiert der Lastwagen in einem Gewerbegebiet in Langweid am Lech nördlich von Augsburg. Sein Arbeitgeber teilt auf Anfrage mit, dort seien Waren der Firma Huntsman Textile Effects geladen worden. Um halb fünf macht sich der Truck auf den Weg nach Frankreich.

Obwohl die Fahnder dem Fahrer nach Auswertung der Videobilder vom Rasthof Schkeuditz schon auf der Spur sein dürften, überquert der am Freitagabend unbehelligt die deutsch-französische Grenze. Gegen halb zehn hat er Straßburg erreicht, um Mitternacht stellt er seinen Wagen in der Nähe von Mühlhausen im Elsass ab, schläft, und fährt am Sonnabend, den 16. Juni, um kurz vor sieben weiter. Ohne weiteren Aufenthalt durchquert er Frankreich, fährt fast 15 Stunden lang durch, als sei er auf der Flucht. Die Nacht verbringt er zwischen Limoges und Angoulême im Südwesten, am Rand einer kleinen Landstraße im Dorf Saint-Projet-Saint-Constant.

Der mutmaßliche Mörder bleibt dort den ganzen Sonntag über. Auch in Frankreich gilt ein entsprechendes Lkw-Fahrverbot. Als er um 22.15 Uhr den Motor wieder anlässt, sind er und sein Lastwagen bereits zur Fahndung in ganz Europa ausgeschrieben. Der Trucker fährt zunächst über kleine Departement-Straßen, erreicht Bordeaux, überquert die französisch-spanische Grenze bei Irun. Früh um vier schließlich erreicht er das Irgendwo im Nirgendwo, die Cepsa-Tankstelle auf dem Gebiet der Gemeinde Asparrena in Spanien. Offenbar hat der Mann die Leiche von Sophia Lösche die ganze Zeit über in seinem Lastwagen versteckt. Dort, an einer Nebenstraße der Autobahn 1, die Irun mit Madrid verbindet, versucht er, den Leichnam loszuwerden. Baskische Polizisten entdecken ihn drei Tage später: halb verbrannt, notdürftig mit ein paar Zweigen bedeckt, in einem Graben zwischen der Tankstelle und einem benachbarten Hotel.

Zwei Stunden nach dem Halt am Dorf Egino nimmt der Benntrans-Lkw direkten Kurs gen Süden. Wieder frisst der Sattelschlepper Kilometer für Kilometer, ohne Pause. Nach Angaben eines Sprechers der spanischen Guardia Civil gerät der Lastwagen jedoch auf der Autobahn vier auf Höhe von Carboneros, einem Ort in der andalusischen Provinz Jaén, in Brand. Ob der Fahrer das Fahrzeug anzündete, um mögliche Spuren zu verwischen, oder ob der Laster zufällig in Flammen aufging, wird noch untersucht. Was feststeht: Als die Guardia Civil erkennt, dass nach dem Fahrer gefahndet wird, nimmt sie ihn fest. Bis zur Fähre über die Meerenge von Gibraltar nach Marokko wären es noch rund 400 Kilometer gewesen. Das Fahrtenbuch zeigt den letzten Halt am Dienstagfrüh um 4.27 Uhr und 15 Sekunden. Exakt 2 547 Kilometer hat der Fahrer bis dahin seit seinem Aufenthalt in Schkeuditz zurückgelegt.

Der Mann kommt in Jaén in Untersuchungshaft und wird am Mittwoch in das Madrider Gefängnis Soto de Real verlegt. Dort übernimmt die in Spanien bekannte Richterin Carmen Lamela am Nationalen Gerichtshof die Ermittlungen. Unter dem Druck der Verhöre bricht der verhaftete Fahrer offenbar zusammen. Er soll gestanden haben. Er habe auch den Fundort der Leiche verraten, heißt es in Justizkreisen in Madrid. Die Übergabe des Tatverdächtigen nach Deutschland sei bereits veranlasst.

Das können die deutschen Sicherheitsbehörden noch nicht bestätigen. „Zur Identifizierung der sterblichen Überreste“ werde jetzt ein DNA-Profil von Sophia Lösche erstellt und den spanischen Behörden zugeleitet, teilt die Staatsanwaltschaft Bayreuth mit. Den Fall bearbeite nun eine 15-köpfige Ermittlungsgruppe. Der Kontakt zu den spanischen Behörden bestehe zum einen über einen Verbindungsbeamten des Bundeskriminalamtes sowie auf Justizseite über die Einheit für justizielle Zusammenarbeit der Europäischen Union, kurz Eurojust. Eine Auslieferung sei beantragt, dies „könne erfahrungsgemäß einige Zeit in Anspruch nehmen“.

Die an der Tankstelle entdeckte Leiche liegt derweil in der Pathologie des Instituts für Forensik in der baskischen Provinzhauptstadt Vitoria-Gasteiz, sie wird dort obduziert. Es gebe Hinweise auf körperliche Gewalt sowie Verbrennungen bei der Leiche, heißt es. Der Körper habe sich „in einem fortgeschrittenen Stadium der Zersetzung“ befunden.

Zum Tatverdächtigen äußern sich die spanischen und deutschen Behörden offiziell nicht. Die im nordmarokkanischen Tanger ansässige Spedition Benntrans bestätigte jedoch, dass es sich um ihren Fahrer Mrabet B. handle. Er sei 41 Jahre alt und arbeite seit 2015 für Benntrans. Bislang habe er sich tadellos verhalten. Mrabet B. sei verheiratet, habe zwei Kinder und „natürlich keine Vorstrafen“. Ein von der Spedition zur Verfügung gestelltes Foto zeigt ihn lächelnd mit seiner Familie am Strand von Tanger.

Benntrans betont, seinen Fahrern sei es ausdrücklich verboten, Anhalter mitzunehmen. „Sollte das bei Mrabet der Fall gewesen sein, war das ein eindeutiger Verstoß gegen die Arbeitsvorschriften“, teilte Firmenchef Driss Assila mit. Er hatte vor neun Jahren die ursprünglich im schwäbischen Benningen ansässige Transportfirma nach deren Geschäftsaufgabe übernommen. Sein Unternehmen ist Mitglied der deutsch-marokkanischen Handelskammer.

Sophia Lösches Bruder schweigt unterdessen auf Facebook und Twitter. Unter seinen letzten Posts, die noch voller Hoffnung waren, finden sich bereits Beileidsbekundungen. Allerdings auch Kommentare wie: „deine grünverstrahlte dumme schwester ist mit 28 jahren noch student. wie geht denn sowas? dumm wie kacke muss man sein. SPD und GRÜNE wähler geschadet durch den muselmanischen wundermann.“

Bereits am Mittwoch sah sich der Grünen-Politiker wegen solcher Statements gezwungen, einen offenen Brief zu schreiben. „Wir möchten darauf hinweisen, dass die Nationalität eines möglichen Täters nichts mit seinen Taten zu tun hat.“