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Shakehands im Raketenwald

Vor 25 Jahren rüstete die sowjetische Armee ihre Atomraketen in Sachsen ab. Ehemalige Offiziere der UdSSR und ein US-General trafen sich jetzt noch einmal in alten Bunkern.

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Von Heinrich Löbbers

Gerade noch rechtzeitig erkennt Nikolai Skiba das drohende Unheil. „Vorsicht, Minen!“, ruft der ehemalige Offizier der sowjetischen Armee und macht einen Schritt zur Seite. Und so können auch alle anderen noch ausweichen – auf dem ohnehin matschigen Waldboden tritt keiner in die Pferdeäpfel. Explodieren kann hier zwar nichts mehr, aber militärische Hinterlassenschaften gibt es viele. Der Weg durch die Birken führt die Gruppe schnurstraks auf eine große Betonwand zu, darin ein riesiges Metalltor, unverschlossenen. Obwohl sie schon lange stumm vor sich hinrostet, lässt sich die massige zweiflüglige Tür erstaunlich leicht öffnen. Sie gibt den Blick frei in ein tristes dunkles Betongewölbe. Im hinteren Teil lagern ein paar Stacheldrahtrollen, sonst ist alles leer in diesem Bunker, seit fast 25 Jahren.

Bis 1988 aber war das hier ein Brennpunkt des Kalten Krieges. In diesem Bunker lagerten Sprengköpfe für acht sowjetische Nuklearraketen vom Typ SS-12, die, je nachdem, wie man es politisch betrachtete, die Welt im militärischen Gleichgewicht hielten oder an den Abgrund führten. In anderen Bunkern in der Nähe parkten Trägerfahrzeuge, mit denen die Raketen zu den Startplätzen gefahren wurden.

Damals standen sich UdSSR und USA bis an die Zähne bewaffnet unerbittlich gegenüber. Nun, an diesem tristen Novembermontag des Jahres 2012 reichen sich vor der rostenden Bunkertür im Taucherwald bei Uhyst unweit der Autobahn 4 zwei Männer demonstrativ die Hände und erzählen sich von ihren Kindern, die im Frieden leben. Der eine hat drei Töchter, der andere eine.

Die Welt nimmt zwar keine Notiz von dem Handschlag, aber die beiden Väter sehen ihre Zusammenkunft durchaus als verspäteten symbolischen Akt. Sie sind Veteranen des Kalten Krieges und sagen heute beide wie aus einem Mund: „Wir waren jederzeit für alle Fälle vorbereitet. Aber was für ein Glück, dass wir nie Ernst machen mussten.“ Dolmetscher müssen übersetzen, aber die beiden verstehen sich. Sie kannten sich bisher nicht, aber sie wussten voneinander. Der eine, ein kleiner, drahtiger Mann mit Steppjacke und Lederkappe, ist aus Weißrussland angereist. Er sagt: „Mir ist das alles noch vertraut hier.“ Der andere, ein schlaksiger Hüne im hellen Trenchcoat, stammt aus Texas. Er war noch nie hier, aber er sagt: „So hatte ich es mir vorgestellt.“

Nikolai Andrejewitsch Skiba war hier in den Achtziger Jahren als Offizier der 119.Raketenbrigade der Sowjetarmee im Einsatz und hatte die Gewissheit, „eine wichtige Aufgabe für Frieden und Stabilität“ zu erfüllen. Raymond E. Haddock kommandierte auf der anderen Seite als General der US-Armee deren Pershing-Raketen und war letzter amerikanischer Stadtkommandant von Berlin. Für ihn war die UdSSR ein „Aggressor, den wir stoppen mussten, weil er Europa großes Unheil zufügen wollte“.

Gemeinsam sind sie mit einer Gruppe von deutschen, amerikanischen und russischen Militärexperten und Friedensaktivisten angereist. Noch zwei weitere ehemalige Sowjet-Offiziere sind dabei, einer dreht seit Längerem einen Film über diese Geschichte. Er heißt „Return to Bischofswerda“, Ausschnittegibt es schon bei Youtube zu sehen. Sie alle sind gekommen, um den Ort anzuschauen, wo vor 25 Jahren ein erster wichtiger Schritt zur Abrüstung getan wurde. Am 8. Dezember 1987 hatten Michael Gorbatschow und Ronald Reagan im sogenannten INF-Vertrag die Zerstörung von Tausenden Mittelstreckenraketen vereinbart. Darunter fielen auch die SS-12, die im Taucherwald von Uhyst und im nahen Königsbrück stationiert waren.

Die Militärkapelle musizierte, Schaulustige schauten, Schüler schwenkten Fähnchen, Funktionäre applaudierten, als am 25. Februar 1988 der Zug mit den Raketen vom Bahnhof Bischofswerda zur Verschrottung nach Kasachstan abfuhr. „Da haben hier in der Gegend alle aufgeatmet“, sagt Matthias Hüsni, der sich selbst „Friedensfreund“ nennt. „Wir saßen ja auf einem Pulverfass.“ Und Weltgeschichte fand vor der Haustür statt. „Wann erlebt man schon mal hautnah eine solche Abrüstungsmaßnahme. Es ist ja selten genug, dass sich Vernunft durchsetzt.“ Hüsni ist Lehrer und Heimatforscher und einer der Gastgeber der Delegation im Taucherwald. Es gibt Bienenstich und Käsekuchen im renovierten ehemaligen Offizierskasino, das jetzt Taucherwaldhütte heißt, man kann sie mieten für friedliche Feiern und Veranstaltungen. In einem Schaukasten drängeln sich Rebhuhn, Marderhund, Nebelkrähe und andere ausgestopfte Tiere der Heimat. Schautafeln dokumentieren die Geschichte des Objekts. Dort hängt auch die Quittung über eine D-Mark, für die die Stadt Burkau das 170 Hektar große Gelände in den 90er-Jahren von der Treuhand kaufte. Bürgermeister Hans-Jürgen Richter sagt stolz: „Das schönste Geschäft in meiner 22-jährigen Amtszeit.“ Mit großem Aufwand und viel Fördergeld hat er das Militärgelände bereinigen und zum Erholungsgebiet umgestalten lassen. Das war sein Beitrag zur Abrüstung. Der heruntergekommene zweistöckige Wohnblock der Soldaten wurde abgerissen, nur die acht Bunker blieben erhalten.

Vom einen auf den anderen Tag war der Wald gesperrt, als im Mai 1984 unangekündigt die Raketschniki anrückten, wie sich die Soldaten der Raketenbrigade nannten. Das blieb natürlich nicht unbemerkt, aber war streng geheim. Allerdings berichtete bald der Radiosender Rias aus Westberlin über die Stationierung bei Bischofswerda. Das sprach sich herum. Nur nichts Genaues wusste keiner. Dafür sprossen die Gerüchte. „Alle hatten Angst, und die Geheimniskrämerei machte es noch schlimmer“, sagt der Lehrer Matthias Hüsni. Die in der DDR übliche Wehrerziehung habe dadurch besonderen Ernst bekommen. Ganz absurd sei es geworden, als Schüler für den Ernstfall üben sollten, Strumpfhosen als Schutzmasken über den Kopf zu ziehen. „Das haben wir nicht lange mitgemacht.“

Das Raketenlager war strikt abgeschirmt, selbst offizielle Kontakte gab es kaum, dafür blühte in den Dörfern ein reger Tauschhandel mit Baumaterial, Kohlen oder Diesel aus Sowjetbeständen. Die Soldaten dagegen waren zum Beispiel an Schnaps sehr interessiert. Noch heute kursieren allerlei Anekdoten und Legenden aus jener Zeit: von dem Bäcker, dem über Nacht die Ladentür mit eingetauschten Kohlen zugeschüttet wurde, von dem kompletten Notstromaggregat, das jemand bei den Russen besorgte, von Lastern, die im Graben landeten oder Zäune und Mauern umfuhren. Militärgeschichte als Folklore.

Die ehemaligen sowjetischen Offiziere reden bei ihrem Besuch im Taucherwald mehr über militärische Details. Über Codes, mit denen Alarm ausgelöst wurde. Über Alarmbereitschaft und Befehlsketten. Und über Raketenreichweiten. 900 Kilometer weit konnte eine SS-12 fliegen. „Unser erstes Ziel waren die Pershing-Stellungen in Westdeutschland, aber wir hatten auch Bonn im Visier“, sagt Nikolai Skiba. Die Ziele der Pershing hätten sich häufig geändert, erklärt US-General a.D. Haddock, aber es sei gut möglich, dass auch der Taucherwald dazugehörte. „Wir konnten uns jedenfalls nicht erlauben, diesen Ort zu ignorieren. 90 Minuten hätte man vom Befehl bis zum Abschuss einer SS-12 gebraucht, sagt Skiba. Der Amerikaner spricht von maximal 15 Minuten für die Pershings. In diesem Moment ist allerdings nicht ganz klar, ob beide wirklich die gleiche Situation meinen. „Zum Glück ist es ja nie dazu gekommen“ sagen beide übereinstimmend. Was hätte es auch gebracht, als Erster tot zu sein? Reden da nun Sieger und Verlierer des Wettrüstens? Man einigt sich lieber darauf, dass die gesamte Menschheit den Kalten Krieg gewonnen hat. Denn hätte eine Seite auch nur eine Rakete abgefeuert, wäre es wohl zu einer verheerenden Kettenreaktion gekommen.

Burkaus Bürgermeister Richter wird sarkastisch beim Gedanken daran: „Im Ernstfall hätten wir hier wohl nicht lange leiden müssen, sondern wären gleich ausradiert worden.“ Heute redet keiner mehr von Bedrohung im Taucherwald. Wo Birken um Bunker wuchern, wird längst wieder gewandert, geradelt, nach Pilzen gesucht und gejagt. Die scheuen Mufflons seien leider verschwunden. Aber dass bald mal ein Wolf auftaucht, meint der Bürgermeister, das sei wohl nur eine Frage der Zeit.