Merken

Schmerz, lass nach!

Wie 50 Kilometer beim Adventure Walk, dem neuen Abenteuer Wandern, zu einer echten Herausforderung werden.

Teilen
Folgen
NEU!
© René Nicolai

Von Michaela Widder

Raus aus der Komfortzone. Pffffff, als halbwegs fitte Mittdreißigerin sollte der Adventure Walk gut machbar sein. 50 Kilometer von Dresden in die Sächsische Schweiz nach Rathen. Dauert lange, ja, könnte zäh werden, bestimmt. Aber ankommen – kein Problem!

Die Brotbüchse, die es vom Veranstalter für die Teilnehmer gibt, ist gut gefüllt: Müsliriegel, Teebeutel, Blasenpflaster. Beim Lesen des beigelegten Handzettels – unterschrieben mit „Muddi“ – huscht ein Lächeln übers Gesicht. „Hallo mein Liebling“, so steht es auf dem Zettel, „bitte nimm am Samstag diese Brotbüchse mit auf deine große Wandertour (...) Solltest Du auf Straßen wandern, passe bitte auf die Autos auf. Hast Du eine Taschenlampe, falls es dunkel wird? Ich mache mir ja bloß Sorgen.“ Ich fühle mich angesprochen, die Zeilen hätte wirklich auch meine Mutter schreiben können.

Es ist die Premiere des Adventure Walk, und dieses Abenteuer Wandern bewegt gleich Massen. Weit über tausend Leute machen sich auf den Weg. Dabei bietet der Dresdner Wanderer- und Bergsteigerverein seit Jahrzehnten schon Langstreckenwanderungen an. Die Idee ist also nicht neu – die Aufmachung schon. Als am Samstagmorgen um halb acht unter dem Startbogen von zehn auf null runter gezählt wird, erinnert das an große Laufveranstaltungen. Dabei soll es diesmal doch gar nicht um Zahlen und Zeiten gehen. Der Weg ist das Ziel.

Die ersten zehn Kilometer zur Meixmühle geht es im Marschschritt voran. Trotzdem ziehen Leute vorbei, denen man es auf den ersten Blick nicht zugetraut hätte. Na wartet, am Ende wird abgerechnet. Noch am zweiten Verpflegungspunkt, am Schloss Belvedere auf der Schönen Höhe bei Kilometer 19,4, bin ich überzeugt, dass ich an diesem Tag mehr Kalorien zu mir nehme, als ich verbrennen werde. Es ist mindestens das vierte Nutellabrot. Allmählich steigt der Appetit auf etwas Salziges. Die kalten Pellkartoffeln mit Salz gehen weg wie warme Semmeln.

Auf teilweise unbekannten Wegen und durch reizvolle Gegenden führt die Strecke in Richtung Burg Stolpen – und das erste Mal zum Zwiegespräch mit meinem Körper. Oberschenkel an Großhirn: Melden langsam voranschreitende Verhärtung. Reine Kopfsache, natürlich. Großhirn an Oberschenkel: Ignorieren! Schließlich haben wir noch nicht mal Halbzeit. Und über Blasen spricht man sowieso nicht, so eine alte Wanderweisheit.

Unterhalb der Burg Stolpen ist bei Kilometer 31 die nächste Rast. Manche Teilnehmer begutachten geschundene Füße. Besser nicht, denke ich. Nach der kurzen Pause fällt es trotzdem schwerer, wieder in die Gänge zu kommen. Sechs Stunden sind wir schon unterwegs. Und zähe Kilometer folgen, dazu die eine Frage: Warum mache ich das? Keine Antwort, dafür schon jetzt die Gewissheit: Nie wieder! Diese Wanderung geht an die Grenzen. Dabei sieht es bei den anderen immer noch so leicht aus. Doch über die eigenen Schmerzen redet niemand, stattdessen über das falsche Schuhwerk. Wanderschuhe sind zu schwer, Trailschuhe zu unbequem, Laufschuhe zu rutschig.

Meine Beine fühlen sich, völlig schuhunabhängig, hölzern an. Die Füße hängen wie Steine am unteren Ende dieser Hölzer. Schritte werden kürzer. Bergab hilft es, ein paar Meter zu rennen. Das entlastet nicht nur die Beine, das erfrischt auch den Kopf. Das monotone Wandern macht mental müde.

An der Rußigmühle, dem letzten Verpflegungspunkt, liegen schon 43,1 Kilometer hinter uns – doch eben auch noch knapp zehn vor uns. Beim Loslaufen ist es ein Gefühl zwischen Endspurt und Notruf. Durch das Polenztal und den Schindergraben (der Name ist Programm!) wird nun jeder Kilometer zum Vorbeimarsch am inneren Schweinehund gefeiert. Ganz still natürlich, heimlich. Als die Lichter von Rathen zu erkennen sind, gehen die Lichter im Körper aus, zeitgleich nach zehn Stunden und 40 Minuten.

Mit dem erhofften Tänzchen auf der After-Walk-Party wird es nichts. Dennoch glücklich mit der schönsten Holzmedaille um den Hals, die man sich vorstellen kann, schlürfe ich zur S-Bahn. Das Rückfahrticket ist übrigens auch inklusive. Die Gefühlslage unter den Teilnehmern geht weit auseinander. Eine Frau meint, „so einen entspannten Tag hatte ich noch nie“. Dagegen stöhnt ein Mann: „So fertig war ich nur mal – beim Ironman auf Hawaii.“

Von den 1 675 gestarteten Wanderern über 50 und 25 Kilometer müssen etwas mehr als 100 aufgeben. Der Letzte kommt 22.45 Uhr und damit eine Dreiviertelstunde nach dem offiziellen Zielschluss im Kurort an. Da feiern manche Hartgesottene noch im Festzelt. Ich liege im Bett – schlaflos vor Muskelschmerzen. Nie wieder! Doch jeder Marathonläufer sagt mir: Wenn der Schmerz geht und der Stolz bleibt, ändert sich das. Meine Antwort: Schmerz, lass nach! Bitte!