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Rettende Ohrfeigen für den Vater

Shlomo Graber überlebte den Todesmarsch und ein KZ-Außenlager in Görlitz. Heute vor 70 Jahren befreiten ihn die Sowjets. Er ist zurückgekehrt und trifft dabei auf einen Freund.

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© Sammlung Hans Schulz

Von Frank Seibel

Sie hätten sich schon vor 71 Jahren begegnen können. Der eine ein Bub von vier Jahren, der andere ein junger Mann, klapperdürr und in Holzpantinen. Doch es dauerte viereinhalb Jahrzehnte, bis der Jüngere überhaupt begriff, dass in den Jahren 1944/45 täglich Hunderte Männer und Frauen in Holzpantinen und gestreiften Anzügen aus grobem Stoff an seinem Elternhaus in Görlitz vorbeigeschlurft waren – und was es damit auf sich hatte.

A Mensch is a Mensch“, sagt Shlomo Graber an dem Ort, an dem er viel Unmenschliches erlitten hat. Der frühere Häftling des KZ-Außenlagers „Biesnitzer Grund“ besuchte in dieser Woche Görlitz.
A Mensch is a Mensch“, sagt Shlomo Graber an dem Ort, an dem er viel Unmenschliches erlitten hat. Der frühere Häftling des KZ-Außenlagers „Biesnitzer Grund“ besuchte in dieser Woche Görlitz. © Wolfgang Wittchen

Ebenso lange dauerte es, bis der Ältere erstmals an diesen Ort im Süden von Görlitz zurückkehrte. In dieser Woche haben sich beide Männer dort getroffen, vor netten Mehrfamilienhäusern aus den 1920er- Jahren, mit Blick auf blühende Gärten und gemütliche Lauben. Freunde sind sie geworden, der Ältere nennt den Jüngeren sogar Bruder. Shlomo Graber sortiert nicht nach Nationalität oder Religion, kommt nach Deutschland ohne Groll. „Ein Mensch ist ein Mensch“, sagt der Mann mit dem schlohweißen Haar. „Und ein Freund ist ein Freund. Das werde ich immer sagen, solange ich lebe.“ Das ist fast ein Wunder.

Vor zehn Jahren hatten sich die beiden Männer erstmals getroffen. Das war am 60.  Jahrestag des Kriegsendes. Shlomo Graber kam als ehemaliger Häftling des Konzentrationslagers in Görlitz und der Jüngere, Rolf Karbaum, war als Oberbürgermeister sein Gastgeber.

Heute ist Shlomo Graber 88 Jahre alt. Er nimmt immer wieder alle Energie zusammen, um an den Ort zurückzukehren, der den großen Wendepunkt in seinem Leben markiert, ja, so etwas wie eine zweite Geburt. Vor 70 Jahren, am 8. Mai 1945, wurde er, der ungarische Jude, aus dem Konzentrationslager „Biesnitzer Grund“ in Görlitz befreit. Am selben Tag erfuhr er von einem russischen Offizier, dass er wohl fast seine gesamte Familie verloren hat: vergast in Auschwitz, auch seine geliebte Mutter.

Jetzt also, zum Jahrestag, war Shlomo Graber wieder da, zum vierten Mal nach 1990, 2005 und 2014. Rolf Karbaum ist nicht mehr Oberbürgermeister, aber als Freund an der Seite des bemerkenswerten Mannes geblieben. Shlomo Graber hat sich wieder mit Schülern an dem Ort getroffen, wo früher einmal der Eingang zum KZ war. Er hat wieder öffentlich von seinem abenteuerlichen Jahrhundertleben erzählt, diesmal auch von seiner Kindheit und von den Jahrzehnten in Israel und in der Schweiz. Diesmal hatte Shlomo Graber seine Autobiografie mit im Gepäck, die heute erscheint. „Denn Liebe ist stärker als Hass“, heißt das Buch. Das waren die letzten Worte, die ihm seine Mutter damals in Auschwitz mit auf den Weg gegeben hat.

Lange Zeit war in der Görlitzer Öffentlichkeit praktisch nichts bekannt über das KZ, das 1944/45 als Außenstelle des Konzentrationslagers im niederschlesischen Groß Rosen geführt wurde. Es gibt nur sehr wenig Text- und Fotomaterial, das vom Schicksal Tausender Juden aus verschiedenen europäischen Ländern erzählen könnte. Sogar das exzellente Görlitzer Ratsarchiv kennt wenige Zeugnisse über das Lager. Nur ein Gedenkstein aus dem Jahr 1959 – initiiert von Schülern der nahe gelegenen Schule – erinnert unauffällig in einer kleinen Seitenstraße an das, was dort einst geschah.

Fast scheint es, als solle die Erinnerung an dieses Stück Görlitzer Geschichte eine Nebensache bleiben in der Stadt, die stolz an die Kaufleute des Mittelalters erinnert oder an die Unternehmer aus der Gründerzeit, die auch die heute noch größten Industriebetriebe schufen; die Zeit nach 1930 bleibt seltsam unbeachtet. So fand weder das KZ seinen Platz im öffentlichen Bewusstsein noch das große Kriegsgefangenenlager östlich der Neiße. Tausende Menschen, die täglich im Stadtbild auftauchten und die doch kaum jemand wahrgenommen haben will. „Ich wusste bis 1989 praktisch nichts über das Lager in Biesnitz“, sagt der frühere Oberbürgermeister Karbaum. „Die Erwachsenen haben gesagt: Das geht uns nichts an, schon gar nicht die Kinder.“

So bleibt die Erinnerung Einzelner. Shlomo Graber weiß das. Er erzählt immer wieder davon, wie er vom Biesnitzer Grund in Holzpantinen durch die Südstadt zur Waggon- und Maschinenbau AG gelaufen ist, der Wumag, deren Betriebe sogar heute noch unter den Konzernnamen Bombardier und Siemens existieren. „Ich habe in der Schweißabteilung gearbeitet“, sagt er, als ihn Oberschüler nach dem Alltag als KZ-Häftling fragen. Zwangsarbeit. Die etwa 1 500 Juden aus dem KZ wurden als Arbeitskräfte ebenso eingesetzt wie die insgesamt 120 000 Kriegsgefangenen in Görlitz. Er erinnert sich an den Meister, der mit Hakenkreuzbinde am Arm herumlief und die Juden übel beschimpfte. „Ich dachte, hier kommst du nicht heil raus.“ Aber dann zeigte der Mann eine andere Seite. Er steckte ihm, dem Häftling, gelegentlich etwas zu essen zu.

Und der Alltag im Lager selbst? „Wir wurden gehalten wie Tiere. Nur eines war wichtig: Essen.“ Davon gab es immer viel zu wenig. Als Shlomo Graber kaum noch 30 Kilogramm wog, galt er als zu schwach zum Arbeiten. Er sollte aussortiert werden – nach Groß Rosen. „Zum Glück habe ich Groß Rosen nie gesehen. Sonst wäre ich heute nicht hier“, sagt Graber. Dennoch war er dem Tod oft sehr nah. Besonders nahe bei jener absurden Expedition im Februar und März 1945. Ein Todesmarsch, wie es ihn an vielen Orten in Deutschland gab.

Die Görlitzer Zivilbevölkerung war bereits weitgehend aus der Stadt gebracht worden, um sie zu schützen. Wenige Menschen lebten nur noch hier, als die Rote Armee auf die Stadt anrückte. Am 11. Februar 1945 befahl NSDAP-Kreisleiter Bruno Malitz die Evakuierung des KZ-Außenlagers.

Die etwa 1 500 Häftlinge wurden, abgemagert und nur notdürftig in Decken gewickelt, auf einen 30 Kilometer langen Marsch durch die hügelige Landschaft südlich von Görlitz geschickt. Der Marsch durchs eisige Land war eine neue Stufe des Leids. Gab es vorher unter den Gefangenen noch so etwas wie Gemeinschaftssinn, ging es jetzt für jeden nur ums Überleben.

Schritt für Schritt, nie stehen bleiben. „Wir gingen wie Mumien.“ Die SS-Wachleute, erinnert sich Shlomo Graber, hatten offenbar den Auftrag, jeden zu erschießen, der nicht weiterkonnte. Doch schlimmer noch als die deutschen seien die ukrainischen Bewacher gewesen: inhaftierte Rotarmisten aus dem Kriegsgefangenenlager Stalag VIII A. „Die waren erbarmungslos.“ Shlomo Graber erzählt, wie sein Vater, der als Einziger aus der Familie noch bei ihm war und drohte zusammenzubrechen. „Ich habe ihn aufgerichtet, ihm ins Gesicht geschlagen und ihn angeschrien, dass er weiterlaufen muss.“ Immer wieder hört er in der unmittelbaren Umgebung den dumpfen Knall eines Gewehrschusses. Manchmal dachte er: erlöst ...

„Und immer der Hunger. Auf dem Marsch grub er gefrorene Zuckerrüben aus dem vereisten Boden. „Es war die Gefahr, dass uns entsetzlich schlecht würde. Es war die Gefahr, dass wir erschossen wurden, weil wir etwas gestohlen hätten. Aber es war die Chance, ein bisschen satt zu werden.“ Am Gedenkstein vor dem ehemaligen KZ, das jetzt eine Kleingartensiedlung ist, fragt ein Schüler: „Wie haben Sie das alles geschafft?“ „Man muss nach jedem Strohhalm greifen.“ Von 1 500 Männern und Frauen kamen nur 500 wieder lebend in Görlitz an. Shlomo Graber und sein Vater waren zwei von ihnen. Nach dem sinnlosen Marsch wurden die Häftlinge dafür eingesetzt, Panzersperren zu bauen und Gräben zu ziehen als Schutz vor der anrückenden Roten Armee.

Es dauerte noch einige Wochen, bis das Leid ein Ende hatte. Erst stand die Nachricht in der Zeitung: „Der Führer ist tot – alle Gefangenen frei“. Das muss am 1. oder 2. Mai gewesen sein. Der Offizier, der das Lager leitete und dem Shlomo jeden Morgen das Frühstück brachte, sagte auf einmal: „Meine Herren, Sie sind frei.“ Auf einmal „meine Herren“! „Ein Jahr zuvor hatte er uns noch klargemacht, dass wir Untermenschen seien.“ Jetzt spielt Shlomo Graber mit den Worten. Wortschatz, Schatzwort: „Herr – auf einmal war man wieder ein Mensch.“

Ein paar Tage lang blieb noch alles in der Schwebe. Der Krieg war noch nicht zu Ende, die neue Freiheit fraglich. Der Offizier hatte den „Herren“ zwar gestattet, die Gefangenenabzeichen abzunehmen. Aber noch immer lebten sie im Lager hinter Stacheldraht. Den zerschnitten erst am 8. Mai sowjetische Soldaten. Es muss ein unwirklicher Tag gewesen sein: Erst Umarmungen, dann mussten sich alle Häftlinge ausziehen und die Kleider auf einen Haufen werfen, weil sie voller Läuse waren. „Dann mussten wir nackt über eine große Straße laufen.“ Er erinnert sich daran, wie sie wahllos in leer stehende Häuser gegangen und sich neue Kleidung gesucht haben. „Es war wie Fasching“, sagt Shlomo Graber lachend. Alle Kleider zu groß für die ausgemergelten Gestalten, zu fein, zu fremd. Kostüme für die „Herren“.

In Görlitz blieb Shlomo Graber nicht lange. Er hatte keine Beziehung zur Stadt, und die jüdische Gemeinde war ausgelöscht. Also reiste er, als er wieder einigermaßen bei Kräften war, zunächst in sein ungarisches Heimatdorf Nyratibor in der Hoffnung, Verwandte, Freunde, Bekannte zu finden. Doch er stieß nur auf leere Geschäfte und Häuser. „Die Schilder an den Geschäften waren wie Grabsteine“, sagt er. Von den vielen Juden, die den Ort einst geprägt hatten, war niemand mehr da. Shlomo Grabers Lebensweg führte von dort über Budapest und Prag nach Israel.

Seinen drei Kindern und den Enkeln erzählte er wenig über die Leidenszeit. Und es sollte Jahrzehnte dauern, bis er zu jener bewundernswerten Gelassenheit fand, mit der er heute über seine Holocaust-Odyssee berichtet.

Vermutlich begann dieser Prozess erst mit der Rückkehr nach Europa. 1988 lernte er seine zweite Frau, Myrtha Hunziker, in Basel kennen. Dort hatte er dienstlich häufiger zu tun. Im Februar 1989 zog er zu ihr in die Schweiz. „Ich wusste zunächst nicht, dass er ein Holocaust-Überlebender war“, sagt die Katholikin, die ihren Mann auf Reisen stets begleitet. Myrtha Hunziker erinnert sich, wie Shlomo anfänglich oft abwiegelte, wenn sie vorschlug, von der Grenzstadt Basel aus in den Schwarzwald zu fahren, um zu wandern. „Ach, die Schweiz ist schöner“, habe er gesagt. 1990 begann er, ein Buch über seine Erlebnisse im Holocaust zu schreiben. Die erste Reise nach Görlitz im Mai jenes Jahres war der Auftakt dafür. Nachts schrieb er, tagsüber sprach er darüber mit seiner Frau. „Ich glaube, dadurch hat er sich befreit“, sagt Myrtha Hunziker.

2005 folgte Shlomo Graber der Einladung einer Schulklasse aus Anlass des 60. Jahrestages. Damals ging er mit den Schülern und anderen Görlitzern ein Stück jener Strecke, auf der so viele seiner Leidensgefährten im Februar 1945 vor Entkräftung gestorben oder ermordet worden waren. An seiner Seite Rolf Karbaum, der Oberbürgermeister, den er heute einen Bruder nennt. Im Nachwort zu Shlomo Grabers Autobiografie erinnert Karbaum daran, wie bewegt Shlomo Graber war, als er auf dem Friedhof von Rennersdorf am Grab seiner Weggefährten stand. Das alles hat Shlomo Graber auf sich genommen.

„Aber Auschwitz habe ich nie wieder besucht, das werde ich auch nie tun“, sagt er. „Ich will nicht auf die Asche meiner Mutter treten.“