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„Pflegende Angehörige verdienen mehr Achtung“

Eine Zwickauerin kämpft für eine Interessenvertretung in Sachsen. Heute wird sie dafür mit dem Selbsthilfepreis geehrt.

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© plainpicture/Westend61/Jan Tepas

Von Gabriele Fleischer

Annelie Wagner erinnert sich genau an die Zeit vor vier Jahren. Sie war körperlich am Ende. Elf Jahre lang hatte sie ihre an Demenz erkrankte Mutter gepflegt. „Das war psychisch und physisch äußerst anstrengend“, sagt sie, „denn ich musste Tag und Nacht für sie da sein“. Dass Wagner trotzdem durchgehalten hat, lag nicht nur an der engen emotionalen Bindung zu ihrer Mutter. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Pflegewirtschaft mit hilflosen, dementen und inkontinenten Menschen oft überfordert ist“, sagt sie. „Das wollte ich meiner Mutter nicht antun.“

Annelie Wagner ist Ansprechpartner für pflegende Angehörige in Sachsen und engagiert sich im Bundesverein „Wir pflegen“.
Annelie Wagner ist Ansprechpartner für pflegende Angehörige in Sachsen und engagiert sich im Bundesverein „Wir pflegen“. © privat

Weil es Tausenden pflegenden Angehörigen in Sachsen ähnlich ergeht, kämpft die Zwickauerin um die Anerkennung von deren Arbeit. Sie verschafft sich im sächsischen Sozialministerium Gehör, sprach mit Politikern im Landtag und besucht viele Veranstaltungen. „Pflegende Angehörige verdienen mehr Achtung“, sagt Wagner. Für ihr Engagement erhält sie am heutigen Freitag den mit 3 000 Euro dotierten Sächsischen Selbsthilfepreis. Die Ersatzkassen ehren mit dem Preis Initiativen und Selbsthilfegruppen, die Kranken und Menschen in schwierigen Lebenslagen Rat bieten.

Arm durch Pflege

„Zwei Drittel der Pflegebedürftigen in Deutschland werden zu Hause versorgt“, sagt Silke Heinke, Leiterin des Verbandes der Ersatzkassen in Sachsen. „Wir wollen den selbstlosen Einsatz der Angehörigen würdigen und ihnen mehr öffentliche Aufmerksamkeit geben“, begründet sie die Entscheidung.

Annelie Wagner nimmt ihre Auszeichnung stellvertretend für die etwa 120 000 pflegenden Angehörigen in Sachsen entgegen. Für die 60-Jährige ist sie Ansporn weiterzumachen. Das Preisgeld wird sie deshalb auch mit für einen neuen Laptop verwenden, den sie für ihre ehrenamtliche Arbeit dringend braucht. Aber auch neue Brillengläser will sie davon finanzieren. „Meine EU-Rente hat dafür in den letzten Jahren nicht gereicht“, sagt sie.

Wagner braucht weiter Durchhaltevermögen. „Denn mein Ziel, eine Interessenvertretung pflegender Angehöriger in Sachsen zu gründen, ist noch nicht erreicht“, sagt sie. Einen Durchbruch erhofft sie sich beim zweiten Sächsischen Pflegetag, der am 22. November in Zwickau stattfindet. Initiiert hat sie ihn allein – und dafür an zahlreichen Stellen um Unterstützung geworben. „Der Austausch zum Fachtag ist wichtig, weil es eben in Sachsen noch immer an einer Lobby für die Betroffenen fehlt“, sagt Wagner. Nur eine Vertretung oder ein Verein könne stimmberechtigt in politischen Gremien mitwirken. Selbst, wenn es die Möglichkeiten vorübergehender Freistellungen für Berufstätige und die Aufnahme von Darlehen gebe, Anträge auf Entlastungsleistungen künftig schneller bearbeitet werden sollen, reiche das nicht. Zudem hätten viele Betroffene Angst, sich wegen der Pflege zu verschulden. Das Pflegegeld sei nicht dafür ausgelegt, den Unterhalt der pflegenden Angehörigen mitzufinanzieren.

Für Sachsen und das gesamte Bundesgebiet fordert Wagner Lösungen für eine bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, Entlastungen sowie das Recht auf Auszeiten durch die Bereitstellung von Kurzzeitpflegeplätzen. Zudem sei ein besserer Schutz der Pflegenden vor Armut nötig. Armut, die sie selbst erlebt hat. Für die Rundumbetreuung ihrer Mutter blieb Annelie Wagner ein Stundenlohn im Cent-Bereich. „Eine Diskriminierung, wenn man bedenkt, dass pflegende Angehörige jährlich einen Wert von 44 Milliarden Euro erwirtschaften. Da ich meine Mutter nicht in ein Heim gegeben habe, lag mein Sparbeitrag für die Gemeinschaft bei 450 000 Euro“, hat Wagner ausgerechnet.

Angesichts des Fachkräftemangels in der Pflege seien die Leistungen nicht hoch genug zu schätzen: „Pflegende Angehörige füllen die Lücken“, sagt Wagner. Und die werden größer. Denn nach Prognosen der AOK Plus entsteht bis 2030 ein Mehrbedarf von über 16 000 Vollzeitstellen in Sachsens Altenpflege. Doch im Freistaat gebe es im Bundesvergleich die wenigsten Bewerber auf offene Stellen in der Pflege – 13 auf 100 ausgeschriebene Arbeitsplätze. Auch deshalb verlangt Wagner politische Entscheidungen für pflegende Angehörige.

Vorerst ist sie aber froh, dass sie mit ihrem Anliegen mehr Öffentlichkeit bekommt und sich mehr Menschen für das Thema interessieren. So hat das sächsische Sozialministerium erstmals nach Berliner Vorbild eine Woche der pflegenden Angehörigen organisiert. Vom 26. bis 29. November finden in vier Orten Veranstaltungen mit Vorträgen, Workshops und Beratungsmöglichkeiten statt. Zum Informations- und Erfahrungsaustausch werden pflegende Angehörige, aber auch ehrenamtliche sowie professionelle Partner aus dem Bereich der häuslichen Pflege eingeladen.

Einsatz für einen Pflegestützpunkt

„Wer sich dafür entscheidet, die Pflege zu Hause sicherzustellen, ermöglicht seinen Angehörigen, in gewohntem Umfeld in Würde und so selbstbestimmt wie möglich zu altern“, sagt Sachsens Sozialministerin Barbara Klepsch (CDU). Annelie Wagner hofft, dass das Engagement des Freistaats nicht einmalig bleibt. Noch gebe es auf dem Weg viele Stolpersteine. Kritisch sieht sie beispielsweise, dass Sachsen nicht wie andere Bundesländern einen Pflegestützpunkt eingerichtet hat – also einen zentralen Ort für eine Vernetzung von Versorgungs- und Betreuungsangeboten, für Beratungs- und Hilfsmöglichkeiten. In Sachsen bestehe das System der vernetzten Pflegeberatung aus einer Pflegedatenbank und regionalen Pflegekoordinatoren in den Landkreisen und kreisfreien Städten, sagt Manja Kelch, Sprecherin aus dem Sozialministerium. Auch Pflegekassen hätten entsprechende Berater. Wagner hält das nicht für ausreichend und setzt sich weiter für einen zentralen Pflegestützpunkt ein.

Das Sozialministerium lehnt die Einrichtung solcher Stützpunkte ab, „um die Entstehung von kostenintensiven Doppelstrukturen bei Beratung, Versorgung und Verwaltung zu vermeiden“, so die Sprecherin. Annelie Wagner will sich damit nicht zufriedengeben. Zwar wird sie selbst keine Angehörigen mehr pflegen müssen. „Aber“, so sagt sie, „ich könnte wie jeder die nächste Pflegebedürftige sein. Auch dafür lohnt sich der Einsatz.“

Neben dem Sonderpreis für Annelie Wagner zeichnet der Verband der Ersatzkassen heute noch andere Initiativen mit dem Selbsthilfepreis aus. Der erste Preis, den eine Jury aus 30 Bewerbungen ausgewählt hat, geht an den Verein Diabetiker Sachsen „Zuckerkids“ in Dresden. Kinder mit Typ 1-Diabetes sicherer im Umgang mit ihrer Krankheit zu machen, ist Anliegen dieser Gruppe. Den zweiten Preis erhält die Selbsthilfegruppe „Lichtblick“ in Breitenbrunn für die Unterstützung chronisch psychisch Kranker. Über den dritten Preis kann sich die Gruppe Junge Erwachsene – Treff nach Krebs im Kindes- und Jugendalter aus Leipzig freuen. Sie unterstützt Jugendliche im Umgang mit der Angst vor dem erneuten Ausbrechen der Krankheit und mit belastenden Therapien.