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Panzer, überall Panzer

Vor fünfzig Jahren wurde der Prager Frühling niedergeschlagen. Auch in Sachsen rollten Panzer. Zeitzeugen erinnern sich.

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© Bettmann/Getty Images

Von Tobias Prüwer

Kurz vor Mitternacht überschritten die ersten Einheiten die tschechoslowakische Grenze. Auf einer Front von 200 Kilometern rückten die Truppen der „Bruderländer“ vor, um die „sozialistische Ordnung“ in der Tschechoslowakei wiederherzustellen. Ohne auf Widerstand zu stoßen, nahmen die acht Divisionen Abschnitte im Land ein. Dann rollten sie weiter auf Prag, das sie um 6 Uhr morgens erreichten.

Alexander Dubcek wollte den Kommunismus reformieren.
Alexander Dubcek wollte den Kommunismus reformieren. © INTERFOTO

Was in der Nacht zum 21. August 1968, einem Mittwoch, geschah, überraschte die Beobachter in Ost wie West nicht. Auch in der Tschechoslowakei, der CSSR, hatte man das Eingreifen der Sowjetarmee und ihrer Verbündeten erwartet. Einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ wollten die Reformer schaffen, die einige Monate zuvor das Ruder in der Kommunistischen Partei übernommen hatten. Alexander Dubcek und Ludvik Svoboda weckten auch Hoffnungen bei der Bevölkerung anderer sozialistischer Länder, deren Regierungen sich zum Handeln gezwungen sahen. So walzten Panzer durch die Goldene Stadt, besetzten Truppen aus der Sowjetunion, Ungarn, Polen und Bulgarien das Land.

Dass die Nationale Volksarmee (NVA) der DDR nicht dabei war, blieb lange Zeit unbekannt. So entschuldigte sich die frei gewählte Volkskammer im Jahr 1990 für die Beteiligung an der Militäraktion. Doch ist die ein Mythos. Zwar schürte die DDR den Konflikt mit der CSSR durch geheime Propaganda-Aktionen. Die an der Grenze zum südlichen Nachbarn aufmarschierte NVA wurde aber von Moskau aus zurückgerufen. Dennoch kam den drei sächsischen Bezirken – Dresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig – aufgrund ihrer geografischen Lage besondere Bedeutung zu.

Bei der DDR-Regierung waren die Erinnerungen an den Aufstand vom 17. Juni 1953 noch wach. Besonders hinsichtlich der deutsch-deutschen Situation war sie an der Geschlossenheit des Ostblocks stark interessiert. Die Staatssicherheit stellte in der DDR-Bevölkerung im Frühjahr 1968 ein gestiegenes Interesse an den Vorgängen beim Nachbarn fest. Es schien also höchste Zeit, zu handeln. Es galt, die tschechoslowakische Regierung unter Druck zu setzen und die „Konterrevolution“ niederzuschlagen. Das war schon bei einem Treffen der sozialistischen Regierungsmitglieder im Dresdner Rathaus am 23. März 1968 deutlich geworden. Die CSSR-Vertreter glaubten an ein Planungstreffen über Wirtschaftsfragen. Doch geriet der Tag, bekannt als „Tribunal der Fünf“, zur einzigen Abrechnung: Moskau und Gefolge duldeten die Einführung der Pressefreiheit und geheimen Wahlen nicht, klagten die Reformpolitik als „Konterrevolution“ an. Letztlich legitimierte diese kollektive Feststellung das spätere militärische Eingreifen.

Ab dem Frühjahr 1968 wurden die Bezirke Karl-Marx-Stadt und Dresden zum Aufmarschraum vorbereitet. Fast 17 000 NVA-Soldaten zog man in den Wäldern zusammen, um die Sowjet-Truppen zu unterstützen. Dafür wurden die 7. Panzerdivision aus Dresden und die 11. motorisierte Schützendivision aus Halle direkt dem Sowjetbefehl unterstellt und nach Nochten in die Oberlausitz beziehungsweise ins Vogtland verlegt.

Als die Invasion begann, hielt der ausdrückliche Befehl des sowjetischen Staatschefs Leonid Breschnew die NVA zurück. Breschnew fürchtete das verhängnisvolle politische Signal 30 Jahre nach dem deutschen Überfall auf die CSSR. Lediglich wenige NVA-Offiziere und Fernmelder waren jenseits der Grenze tätig. Das Gerücht, NVA-Soldaten seien in sowjetischen Uniformen einmarschiert, lässt sich nicht belegen.

Militärisch war die Hilfe ohnehin nicht notwendig. Rasch erreichten die sowjetischen, bulgarischen, polnischen und ungarischen Truppen Prag. Ungefähr 500 000 Soldaten marschierten ein, darunter etwa 300 000 Sowjets. Wie viele davon in Sachsen standen, lässt sich schwer ermitteln, da die Divisionen immer wieder umgruppiert wurden. Der Militärhistoriker Rüdiger Wenzke spricht von „Zehntausenden Sowjetsoldaten mit über 2 000 Panzern und 2 000 Schützenpanzern“. Die Bevölkerung in den grenznahen Kreisen hatte gewaltige Beeinträchtigungen hinzunehmen. Die Bewegungsfreiheit war eingeschränkt, Telefon und Post auch. Es gab Unfälle mit Todesfällen, Schäden an Straßen, Brücken und Gebäuden.

Die Einheiten kehrten im Oktober zu ihren Standorten zurück. Als im Herbst eine zweite Welle der Roten Armee in Sachsen erschien, wurde sie mit staatlichen Weihen empfangen. Bei einer Militärparade auf dem Dresdner Altmarkt wurden Parallelen zur Novemberrevolution 1918 gezogen: mit dem Gewehr für die Freiheit.

Schützenhilfe für die Invasion kam aus Sachsen in Form zweier wichtiger Propagandainstrumente. Der Sender „Vltava“ (Moldau) saß in Ostberlin, seine Signale wurden aus der Nähe von Wilsdruff, von der Birkenhainer Höhe, ausgesandt. Bereits der ideologisch scharfe Ton gab die Station als Okkupationssender zu erkennen. Darüber hinaus entlarvten Sorben und Sudetendeutsche als Sprecher mit hörbarem Akzent den Charakter des Senders.

Ebenso geringen Erfolg verbuchte die Zeitung „Zpravy“ (Nachrichten). Gedruckt wurde sie in Dresden, ihre Redaktion saß im Großbetrieb „Völkerfreundschaft“. Wöchentlich 350 000 Exemplare wurden über die Grenze gebracht und von Sowjet-Soldaten verteilt, später in Cafés ausgelegt. Auch wenn Zeitung und Sender für die antireformerischen Kräfte in der Tschechoslowakei bis Anfang 1969 die einzigen Medien blieben, war die Resonanz gering. Sein Engagement in Sachen Propaganda hielt das DDR-Politbüro lieber geheim. Auf Jahrzehnte blieben die Akten unter Verschluss. Für die Ostdeutschen galt die CSSR als kleines Reich der Freiheit. Die Kulturszene war weniger reglementiert, es gab Westkonsumartikel, weshalb es beliebtes Besuchsland war. Zunächst stellten die DDR-Behörden die Werbung für CSSR-Reisen ein. Auf offene Repression verzichteten sie zunächst.

Nach dem Einmarsch der Truppen im Sommer 1968 gab es vereinzelte Proteste der DDR-Bürger, etwa in Form von Flugblättern oder Parolen an Wänden. Im Bezirk Dresden registrierte die Stasi rund 300 entsprechende Delikte. Das führte in den Arbeitskollektiven und Hochschulen zu sogenannten Aussprachen, in denen die Bürger auf Linie gebracht werden sollten. Nach der verpassten Chance, im Zuge des Prager Frühlings den Sozialismus im gesamten Ostblock zu reformieren, machten sich Resignation und Hilflosigkeit breit. Die Menschen suchten sich ihre Nischen in der Gesellschaft hinter Mauern. So wurde der Prager Frühling in historischer Perspektive zur wichtigen Wegmarke für die Friedliche Revolution 1989.

Literaturtipp: Konstantin Hermann (Herausgeber): Sachsen und der Prager Frühling, Sax-Verlag, 14,50 Euro

Die SZ widmet sich auch in ihren Ausgaben Anfang der kommenden Woche dem Prager Frühling und seinem Ende, Zeitzeugen kommen in Videos auf sz.online zu Wort.