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Manchmal kommt jemand vorbei

Jeder kleine Ort müsste einen Sozialarbeiter haben, meint Ilse Drese. Bis es so weit ist, kümmert sie sich in Kesselsdorf selbst. Sie ist ja noch nicht mal neunzig.

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© c by Matthias Rietschel

Karin Großmann

Eine freundliche ältere Dame genießt in ihrem Garten den sonnigen Herbst, als sei das selbstverständlich. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass der Garten unbrauchbar war. Tag und Nacht kam die Bundesrepublik dran vorbei. Alles, was zwischen Dresden und dem Süden hin und her rollte, hatte die freundliche ältere Dame direkt vorm Zaun. Manchmal stauten sich die Fahrzeuge kilometerlang. Dann hatten die Einwohner Glück. Sie konnten über die Straße. Als die Pläne für eine Umleitung nach neun Jahren gestoppt wurden, reichte es. „Da haben wir eine Demo gemacht, herrlich war das!“, sagt die Dame. Ilse Drese, 86, Einwohnerin von Kesselsdorf bei Dresden und gute Seele des Ortes. Bekannt wie ein bunter Hund, sagen die Leute, ein kleiner, flinker, energischer, grauhaariger Unruhegeist.

Heute führt die Bundesstraße weit um den Dorfkern herum. Ilse Drese hat großen Anteil daran. Sie hat eine Bürgerinitiative mitgegründet, verteilte Handzettel und sammelte fast Tausend Unterschriften. Bei Protestdemonstrationen griff sie selber zum Megafon. „Ich hab Briefe geschrieben an die Herrschaften in Berlin und Dresden und sie zu mir in den Garten eingeladen. Sie sind aber nicht gekommen.“ Einer, der kam, war der Bürgermeister. Als der Kampf gewonnen war, brachte er mit einem herzlichen Dank eine Fotomontage. Neben Aufnahmen vom Protest und vom Bau ist die neue Ortsumgehung zu sehen mit einem Straßenschild. Weiß auf blauem Grund steht da: Ilse-Drese-Trasse. Leider heißen Bundesstraßen nach Zahlen und nicht nach wackeren Frauen. Was tun bloß die Gleichstellungsbeauftragten den ganzen Tag?

Obwohl es nun im Garten viel ruhiger ist, bleibt die freundliche ältere Dame nicht lange sitzen. Sie hat zu tun. Ilse Drese hat immer zu tun. Bauleute verlegen Fußbodenplatten in dem Fachwerkbau, der fast ein Jahrhundert lang eine Schule war. Ilse Drese wohnt unterm Dach. Ihr Sohn hat das Haus gekauft und denkmalgerecht renoviert. Sie hütet den Geist des Ortes, liest und lernt und gibt es weiter. Die Schule wurde 1782 gebaut und von den Einwohnern finanziert. Bauern sollten 16 Groschen je Hufe zahlen, Pächter und Hausgenossen gaben zwei Groschen. Und dann machten sie sich ans Werk, der Maurermeister Christian Büttner aus Wilsdruff und der Zimmermeister David Mäuser aus Tharandt.

Schön, dass es jemanden gibt, der das aufhebt. Der noch weiß, wie etwas gewachsen ist, auch gegen Widerstände. Vielleicht interessieren sich die nächsten Generationen dafür und klagen nicht nur über die Schnelllebigkeit der Zeit.

Die, die jetzt schon jenseits der achtzig sind, bleiben meist unter sich, Leute wie Ilse Drese und Egbert Steuer, der Ortschronist. Was der eine nicht weiß, weiß der andere. Sie vergraben sich in den Staub der Jahrhunderte, und wenn sie wieder auftauchen aus den Archiven, zeigen sie mit leuchtenden Augen ihre Fundstücke vor. Egbert Steuer zum Beispiel fand Briefe, die Napoleon an seinen Vater schrieb – verfasst im benachbarten Steinbach. Dort muss der Franzose gelegen haben mit seiner Schwadron. Ilse Drese erzählt stolz, dass sie eine Unterschrift des Dresdner Ratszimmermeisters George Bähr entdeckte und belegen konnte, dass er am Umbau der Kesselsdorfer Kirche beteiligt war. „Bevor die Frauenkirche in Dresden wiederaufgebaut wurde, waren Fachleute hier und haben es uns bestätigt: typisch Bähr!“ Er hat in Kesselsdorf erst mal geübt, heißt es spöttisch.

Und was hast du davon, wenn du das weißt?, fragt mancher im Ort. Ilse Drese könnte es mit den Wurzeln erklären, die einer hat oder nicht. Sie stammt aus Kamenz und kam vor reichlich fünfzig Jahren mit ihrem Mann nach Kesselsdorf, sie als Religionspädagogin, er als Pfarrer. Vorher betreuten sie eine Gemeinde bei Borna, bis die Braunkohle kam. Umso fester band sich die Familie an das neue Zuhause und forschte die Vergangenheit aus, um die Gegenwart zu verstehen. Zuerst aber, erzählt Ilse Drese, ließ sie sich von einem Bauern das Sensen zeigen. Auf der Wiese beim Pfarrhaus standen immer einige Schafe, wenn nicht gerade die Wäsche bleichte. Gemüsebeete gehörten dazu. Sie kümmert sich bis heute alleine um den Garten am alten Schulhaus, mäht Gras und schneidet die Hecke. Manchmal kommt jemand auf dem Weg zur Bushaltestelle vorbei.

„Ich bin sehr für menschliche Kontakte. Aber die meisten Leute gehen früh aus dem Haus und kehren spät abends zurück. Wie soll da eine Bindung an den Ort entstehen?“ Kesselsdorf besitzt inzwischen eines der größten Gewerbegebiete in Sachsen und angeblich die höchste Millionärsdichte. Doch die meisten Zugezogenen scheinen eher Flachwurzler zu sein. Das war für Ilse Drese, Egbert Steuer und ein paar andere der Anlass, einen Verein zu gründen. Die Neuen sollten sich willkommen fühlen. Der Heimatkreis gehört zum Sächsischen Heimatschutzverein. Nächste Woche wird das zwanzigjährige Bestehen gefeiert. „Wenn wir Skat oder Fußball bieten würden, kämen mehr Leute“, sagt Egbert Steuer. Er spielte Geige in der Dresdner Philharmonie. Fußball eher nicht. „Da kann man nichts machen.“

Und doch macht der Heimatkreis eine Menge. Er lädt zu Vorträgen ein und hat ein Dutzend grüne Info-Tafeln ins Dorf gesetzt. Da wird auch der 200 Jahre alte Brunnen gewürdigt, wo die Einwohner noch bis 1990 Wasser holten. Anderthalbtausend Euro hat der Heimatkreis für die Restaurierung des Brunnens gesammelt. Tafeln stehen vor dem Kriegerdenkmal, vor der Kirche St. Katharinen und vor dem Einnehmerhaus, wo Reisende ihren Zoll zahlten.

Wenn Ilse Drese durchs Dorf geht, weiß sie zu jedem Haus eine Geschichte. Manche reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück, und manche hat sich erst gestern ereignet bei einer Geburtstagsfeier. „Heimat ist, wo man die Leute kennt, die man unterwegs grüßt.“ Grüßen aber ist selbstverständlich.

Zu hohen Geburtstagen bringt Ilse Drese einen Blumenstrauß. Denn sie kämpft nicht nur für Umgehungsstraßen. Sie engagiert sich nicht nur im Heimatkreis und in der Kirche. Sie hält auch die Seniorengruppe zusammen. Das erklärt ihren schnellen und festen Gang. Anders würde sie das Pensum nicht schaffen. Bei längeren Strecken steigt sie aufs Rad. Jetzt mit Motor. Von Alter kann keine Rede sein, wenn die 86-Jährige sagt: „Jemand muss sich doch um die Alten kümmern, damit sie sich nicht allein fühlen“, und also kümmert sie sich. Die Senioren treffen sich einmal im Monat beim Griechen „Elena“ auf der anderen Seite der Bundesstraße zum Kaffee. „Aber nicht nur zum Babbeln!“, sagt Ilse Drese streng. „Es gibt immer ein Thema!“

Mal kommt jemand vom Rathaus, mal spricht ein Arzt. Als neulich ein Redner ausfiel, hat Ilse Drese die Runde selbst unterhalten und Martin Luthers Ehefrau vorgestellt. Nur so mit zwei, drei Stichwörtern auf dem Zettel. Zu schreiben gibt es genug. Einladungen zum Beispiel für die nächste Seniorenausfahrt. Den Papierkram erledigt sie am Computer, wo sonst. Und wenn die Technik mal patzt – bei drei Kindern, dreizehn Enkeln und sechs Urenkeln findet sich gewiss jemand, der ihr hilft. Ihr Mann starb vor zehn Jahren.

In der Regel aber ist es Ilse Drese, die anderen hilft. Nachbarn bringen ererbte Briefe, die sie nicht entziffern können. Andere suchen Rat bei einer Beerdigung und einen Trost. „Das heißt zuhören, aussprechen lassen, vielleicht ein Händedruck, Anteilnahme.“ Doch dann fällt manchmal dieser Satz, der sie ratlos macht. Dann sagt einer der Alten: Wir passen nicht mehr in die Welt. Dieses Gefühl kennt sie ganz gut. „Jede Katastrophe und jede Kriegsdrohung haben wir sofort in der Stube, alles zugleich, ob Mexiko oder Nordkorea. Die Welt ist so klein geworden, so friedlos. Da ist so viel Herzeleid und Kummer. Früher wussten wir vieles nicht. Vielleicht war das Nichtwissen der Seele bekömmlicher.“ Ein Schatten geht durch den sonnigen Herbst. Doch er bleibt nicht lange im Garten hängen. Ilse Drese hat eine Idee. „Jeder kleine Ort müsste einen Sozialarbeiter haben.“

Bis es so weit ist, muss sie halt selbst vorm Ortschaftsrat dafür kämpfen, dass endlich ein Kinderarzt nach Kesselsdorf zieht, denn 200 Kitaplätze sind wohl ein ausreichendes Argument. Nebenbei fischt sie in einem alten Kirchenbuch nach einem Namen, den der Ortschronist sucht. „Mit der Ilse ist es ein feines Zusammenarbeiten“, sagt Egbert Steuer, „auf die Ilse kann man sich absolut verlassen.“

Das wissen die Besucher der Heimatstube zu schätzen. Anlässlich eines Klassentreffens lassen sie sich dort von einer freundlichen älteren Dame die berühmte Schlacht bei Kesselsdorf von 1745 erzählen. Sie erfahren, dass unter George Bähr die Kirche „erweitert, erhöhet, renovieret“ wurde und der fleißige Landschaftsmaler Johann Christian Klengel im Gehöft gleich nebenan aufwuchs. Die Geschichte ist seitdem weitergegangen. Nun gehört die neue Umgehungsstraße dazu, die Ilse-Drese-Trasse.