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„Man war nicht immer nur tapfer“

Der Arzt Volker Hofmann erlebte alle Widersprüche des Jahrhunderts hautnah und revolutionierte die Kinderchirurgie in der DDR.

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© loesel-photographie.de

Von Karin Großmann

Nach dem vierten oder fünften Film über die DDR hatte er die Nase voll, sagt Volker Hofmann. „Unser Leben war nicht nur Stasi, Flucht und Ausreise. 95 Prozent der Menschen waren weder Opfer noch Täter, sie haben ein normales Leben gelebt, mehr oder weniger angepasst, mehr oder weniger widerständig.“ Weil er ein genaueres Bild vermitteln will, schreibt er seine Geschichte auf. Es ist die Geschichte eines Mannes, der zwischen alle Stühle gerät und sich trotzdem glücklich nennt. Die Begründung kommt unerwartet: „Ich gehöre zur ersten Generation deutscher Männer, die nicht mehr auf einen Feind schießen und keine Schuld auf sich laden musste.“

Es war eine glückliche Kindheit in Dresden: Volker Hofmann mit seiner Schwester Inge.
Es war eine glückliche Kindheit in Dresden: Volker Hofmann mit seiner Schwester Inge. © privat

Um die Erfahrung des Krieges ist er nicht herumgekommen. Volker Hofmann, 1939 in Dresden geboren, trägt für immer das Bild in sich, wie ein freundlicher Nachbar im Luftschutzkeller bei einem Angriff plötzlich von seinem Klappstuhl rutschte und unter den Entsetzensrufen seiner Frau starb. Den ersten Toten vergisst man nicht.

Für einen Mediziner ist der Tod stets gegenwärtig, auch wenn ihm jetzt die Herbstsonne auf den Schreibtisch scheint. Es ist noch nicht lange her, da verfasste Hofmann an diesem Tisch eine Rede für seinen Freund Erich Loest. Der Anlass war eine Gedenktafel am Leipziger Wohnhaus des Schriftstellers, der sich vor fünf Jahren aus einem Klinikfenster gestürzt hat. Hofmann, energisch, sportlich, kräftige Hände und graues Stoppelhaar, schüttelt den Kopf. Er missbilligt. Er missbilligt ausdrücklich, dass dem Freund offenbar kein anderer Ausweg blieb als der Sturz aus dem zweiten Stock. „Das ist eine Schande.“

Das Gespräch in dem gediegen möblierten Einfamilienhaus beginnt gerade erst, da werden die Widersprüche schon sichtbar. Wie kann einer, der mit der Versöhnungskirche in Dresden-Striesen quasi verwandt ist – Hofmann heiratete die Tochter des Pfarrers – und den Glauben als bestimmend für sein Leben bezeichnet, wie kann ein solcher Christ und Mediziner für die Sterbehilfe plädieren? „In der allerletzten Situation, wenn es nur noch um die Verlängerung des Leidens geht, muss man barmherzig sein dürfen“, sagt Volker Hofmann. Ein entschiedenes Ja auch zur Widerspruchslösung bei der Organspende, womit jeder als potenzieller Spender gilt, der das nicht ausschließt.

Und auch sonst würde der einstige Chefarzt manches anders organisieren, wenn er die Möglichkeit dazu hätte. „Es macht mich traurig“, sagt er, „dass die Gesundheitsversorgung zunehmend von marktpolitischen Erwägungen bestimmt wird.“ Die Anfänge erlebte er an der Kinderchirurgie in Halle nach 1989. „Plötzlich spielte das Geld in der Medizin eine große Rolle. Kranke Kinder aber bringen wenig Geld.“ Er sorgte sich um seine Patienten. Und er sorgte sich um sein Lebenswerk. Der Kinderchirurg Volker Hofmann hatte ein Institut aufgebaut, das es gar nicht hätte geben dürfen und das dann landesweit berühmt wurde. Nun sollte er um einen Termin bitten beim Verwaltungsleiter, wenn er etwas brauchte? Jahrzehntelang war das andersherum gelaufen.

Einfach war es auch da nicht. Hofmann half sich in der DDR mit Witz und List. Einmal fällt ihm ein, wie er vergeblich einen Heizungsmonteur suchte, bis er einen mit Kindern fand – der die Bekanntschaft eines Kinderarztes zu schätzen wusste. Man würde es heute Netzwerken nennen.

Wie sich Volker Hofmann 1977 seine erste Westreise erstritt, ist ein Kabinettstück für sich. Er erzählt, wie er nach zwei Dutzend Anträgen endlich die Reiseerlaubnis für die Schweiz erhielt. Und am Tag vor der Reise die Absage. Er ignorierte das Telegramm, fuhr ins Ministerium nach Berlin, spielte vor Publikum im Foyer den Wechsel von Vorfreude in spontane Enttäuschung und Empörung, sprach vom Ansehensverlust der DDR, behauptete, sein Koffer sei schon im Flughafen – und hatte Erfolg.

Er nennt es das Prinzip Schwejk. Das hätte als Buchtitel für seine Erinnerungen getaugt. Aber er schreibt vor allem für die Jüngeren, und die kennen vielleicht die Geschichte vom braven Soldaten nicht, der mit treuherziger Arglosigkeit Autoritäten auflaufen ließ und sich am Ende durchsetzte. Das, sagt Hofmann, würde er der nächsten Generation gern mitgeben: Dass man wach bleiben sollte, zuhören, sich politisch einmischen, nicht wegducken – und den eigenen Talenten mehr vertrauen als den Wünschen der Vorgesetzten. Das ist das Resümee eines engagierten Lebens. Wer bei einem Kongress in Ostberlin 1988 vom Podium aus die Abschaffung der Wehrpflicht forderte und die Reduzierung der konventionellen Rüstung, musste mit allem rechnen. Trotzdem sagt der Mediziner: „Man war nicht immer nur tapfer.“ Und: „Man hätte deutlicher aufbegehren müssen. Was hätte mir als Klinikchef denn passieren können?“ Ein solches Eingeständnis ist selten zu hören unter all den Widerstandskämpfern.

Hofmann sitzt an seinem Schreibtisch und schaut in den Garten. Langsam färben sich die Blätter am Apfelbaum. Die Pfarrerstochter holt einige späte Rosen ins Zimmer. Mehr als sechs Jahrzehnte dauert die Ehe inzwischen. Die drei Kinder gehen längst eigene Wege, weit weg in anderen Städten. Vielleicht, so überlegt Hofmann, waren sie der Grund, dass er lieber den Schwejk spielte. „Ich habe mich gefragt, wie weit ich gehen kann im Protest gegen die vielfachen Einschränkungen der Freiheit. Ich wollte nicht, dass die Kinder unter meinen Entscheidungen leiden, ich wollte ihnen den Bildungsweg nicht verbauen.“ Müsste man für die Freiheit nicht alles riskieren? Hofmann zögert kurz. „Nein“, sagt er dann. Die Kinder erlebten beides, Jugendweihe und Konfirmation.

Der Widerspruch bleibt das Bestimmende in diesem Leben, das gutbürgerlich in der Tzschimmerstraße 11 in Dresden-Striesen beginnt. Die ersten drei Wörter, die Klein-Volker ziemlich fehlerfrei spricht, sind: Mama, Papa und Hitler. So überliefert es das Tagebuch von Hofmanns Vater. In feiner, akkurater Schrift hat er Heft um Heft vollgemalt und sich als glühender Nazi offenbart. „Ich weiß nicht, warum er so blind war“, sagt Volker Hofmann. „Er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun.“ Er beschreibt eine harmonische Kindheit, mit endlos langen Sommern in einer Gartenlaube in Wehrsdorf, mit Ferien bei den Verwandten in Bärenfels und einer Großmutter, die mit bloßen Händen in der Gimmlitz Forellen fing. Zu den glücklichen Kindheitsbildern gehört das Fußballspielen auf den Elbwiesen bis in die Dunkelheit.

Einer, der dort mitbolzte, war Peter Schreier, heute Kammersänger und damals Kruzianer. Volker Hofmann musste zwar den Chor bald verlassen, weil dem Kreuzkantor Mauersberger die Stimme missfiel, doch er blieb in der Schule: „Eine Insel im sozialistischen Meer.“ Bis heute fühlt er sich in der Welt der Musik zu Hause. Inzwischen sind die frischen Knaben von einst alte Herren und treffen sich einmal im Jahr, um die Erinnerung zu pflegen. Dann kann Hofmann eine Episode beisteuern, die mehr über die Widersprüche des gewesenen Landes sagt als mancher Film. Als seine Schwester Inge Mitte der Achtzigerjahre ärztliche Hilfe brauchte, die sie nur in der Bundesrepublik bekommen konnte, stellte sie einen Ausreiseantrag – und Peter Schreier half mit seinen Kontakten in die höchste Kulturabteilung, damit es schnell ging.

Wenn Volker Hofmann erzählt, reiht sich ein Konflikt an den nächsten. Über manchen kann er mit dem Abstand der Jahre gelassen lächeln. Irgendeinen Vorteil muss das Alter ja haben. „Man kann auch in der Diktatur ein kleines, glückliches Leben leben, oder: trotz der Diktatur.“ Dazu gehörte Mitte der Sechzigerjahre das Mittagessen im „Goldenen Löwen“, eine Art Betriebskantine des Landambulatoriums in Sayda. Auf dem Erzgebirgskamm verbrachte Hofmann seine Pflichtassistentenzeit nach dem Studium. Er wechselte an die Uniklinik nach Leipzig und ahnte nach den sogenannten Kaderentwicklungsgesprächen: Auf einen Spitzenposten brauchte er an diesem Haus nicht zu hoffen. Er hatte zur christlichen Studentengemeinde gehört, hatte gegen die Sprengung der Leipziger Unikirche demonstriert, wäre nie in die SED eingetreten und nicht mal in die CDU. „Die war doch viel zu angepasst.“

Im katholischen Krankenhaus St. Barbara in Halle fand der evangelische Mediziner seinen Platz. „Wir hatten es leichter“, sagt er nachdenklich, „damals haben die Eltern den Ärzten vertraut, wenn sie mit den kranken Kindern kamen. Wir konnten uns verwirklichen in unserer Arbeit.“

Als er anfing, hatte die allgemeine Chirurgie fünf Betten für Kinder, wenig später war es eine eigenständige Klinik mit 56 Betten. „Das gab es nur an einigen wenigen Uni-Kliniken, und nur im Osten.“ Hier war der Kinderchirurg als eigenständiger Facharzt schon seit 1955 anerkannt. Hartnäckig kämpfte Hofmann dafür, dass die Regelung bei der Wiedervereinigung übernommen wurde. Das dauerte bis 1992. Dabei liegt es doch auf der Hand, meint Hofmann mit einem Grinsen, dass die Hämorrhoiden eines Achtzigjährigen andere Behandlungsmethoden erfordern als der Leistenbruch eines Babys.

Es war Mitte der Siebzigerjahre weit vorausschauend, als das St.-Barbara-Krankenhaus mithilfe der Caritas-West ein neues Gerät erwarb. Die Bilder auf dem Monitor ähnelten anfangs Mondlandschaften oder Wetterkarten. Hofmann wurde mit höhnischem Gelächter bedacht, als er diese Bilder bei einem Kongress in Leipzig präsentierte. „Und der Spott unter ärztlichen Kollegen gehört ja zu den schönsten Emotionen.“ Doch bald wurden die Aufnahmen schärfer, die Ärzte geschickter, Defekte wurden früher erkennbar, Komplikationen vermeidbar – so selbstverständlich, wie die Ultraschalldiagnostik heute ist, so sensationell war sie für Volker Hofmann damals.

Auf seinem Schreibtisch liegt ein orangefarbener schmaler Band, erschienen im VEB Georg Thieme Verlag in Leipzig 1979. Man sieht dem Büchel die Bedeutung nicht an. Hofmann verfasste die weltweit erste umfassende Darstellung der Ultraschalldiagnostik im Kindesalter. Begeistert schildert er die Möglichkeiten der neuen Technik. Sie brachte sofort neue Konflikte.

Der Mediziner erinnert sich: Bei der Untersuchung einer schwangeren Patientin hatten die Ärzte eine schwere Missbildung des Kindes entdeckt. Das Großhirn fehlte. Das Kind wäre nicht lebensfähig gewesen. „In dieser schwierigen Situation wollten wir die Mutter nicht allein lassen und vom katholischen Krankenhaus in ein staatliches bringen.“ Die Schwangerschaft wurde abgebrochen. Eine Ordensschwester meldete den unerhörten Vorgang dem Bischof, dieser suchte Rat beim Vatikan, am Priesterseminar Erfurt wurde ein Treffen von Kardinälen, katholischen Moraltheologen, Vertretern des Vatikans und der Hallenser Klinik organisiert. Die Diskussion mündete in eine bemerkenswerte Entscheidung: Bei einem nicht lebensfähigen Kind ist auch an einer katholischen Klinik die vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft zu verantworten. „Das war revolutionär!“, sagt Hofmann. „Und es war ehrlich. Nach der Wende wurde diese Regelung wieder zurückgenommen.“

Volker Hofmann leitete die Kinderchirurgie in Halle bis 2003, dann ging er in Rente. „Anders als manche Kollegen habe ich nie wieder ein Messer angefasst.“ Gearbeitet hat er trotzdem, er reiste zum Beispiel für die Aktion „Kinder von Tschernobyl“ mehrfach nach Weißrussland und in die Ukraine, um bei der Arbeit mit Ultraschallgeräten zu helfen.

Manchmal fragt sich der 79-Jährige beim Blick zurück, was falsch war und was richtig. Seine Lebenserinnerungen, die demnächst im Verlag Janos Stekovics bei Halle erscheinen, sollen im Titel die Bibel zitieren: Er aber zog seine Straße fröhlich.