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„Ich bitte Sie inständig ...“

Ein Mitarbeiter des Siemens-Werkes schickte ein Schreiben an den Chef der Siemens-Sparte Stromerzeugung- und Gasturbinen, Willi Meixner. Zu dieser Sparte gehört das Görlitzer Werk.

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© dpa

Sehr geehrter Herr Meixner,

Ich bin seit mehr als neun Jahren Mitglied der Siemensfamilie. So wie sich die Situation über einen länger währenden Prozess entwickelt hat und jetzt darstellt, kann man hier nicht mehr von einer Familie sprechen. Das macht mich traurig und betroffen. Mit der Umorganisation zu Beginn des Geschäftsjahres sollen mit Erlaub Managementfehler kaschiert werden. Der Trend zu ständig wachsender Globalisierung lässt detailliertes Fachwissen verschwinden. Kundenspezifika für Nischenprodukte finden kaum noch Berücksichtigung. Oder wie sonst können Sie sich erklären, dass eine globalisierte Verkaufsorganisation in den letzten zwei Jahren wenig bis gar kein Augenmerk auf das „kleine“ aber lukrative Industriedampfturbinengeschäft gelegt hat?

Dieser Trend wird jetzt mit der Splittung in Regionen und der Zusammenlegung von Gas- und Dampfturbinen fortgeführt. Wenn Sie sich zurückerinnern, wir hatten schon eine Organisation, in der Dampf- und Gasturbine vereint waren. Das scheint aber auch nicht der große Wurf gewesen zu sein, sonst hätte man das fortgeführt. Die von Ihnen propagierten Synergien, die untereinander gefunden werden, gibt es gar nicht. Die Umorganisation spült nur neue Kolonnen von sogenannten Managern und Helfershelfern an die Oberfläche, die das Rad neu erfinden wollen und angeblich alles besser machen.

Und genau in diesem Moment gibt es die Informationen, dass unser Standort, der eine Messlatte im innovativen Industriedampfturbinengeschäft ist, geschlossen werden soll. Sie begründen das mit den rückläufigen Märkten. Siemens beschäftigt hochbezahlte Strategen. Haben die den Trend nicht gesehen? Wozu gibt es Strategieabteilungen, wenn die nicht zeitnah auf die Erfordernisse des Marktes reagieren?

Ich möchte Sie wachrütteln. Ich möchte, dass Sie persönlich darüber nachdenken, wie Sie reagieren würden, wenn Sie in so einer Situation wären, wie rund fünf Prozent aller arbeitenden Menschen in Görlitz. An diesen fünf Prozent hängen noch einmal mindestens genauso viele Arbeitsplätze, die indirekt mit dem Siemensstandort Görlitz verknüpft sind.

Bedenken Sie in Ihren Planspielen, dass Sie in einer strukturschwachen Region, wie der unseren, Existenzen zerstören. Die Region hat trotz deutschlandweiter guter Konjunktur mit die höchste Arbeitslosenquote. Und wer nicht arbeitslos ist, hat häufig mehr als einen Job, um sich und seine Angehörigen ernähren zu können. Sie werden vielleicht sagen, dass man doch der Arbeit hinterherziehen kann. Das haben viele Anfang der 90er-Jahre getan und sind froh, dass sie wieder in der Heimat angekommen sind und Arbeit gefunden haben. Hier hängt nicht nur die Zukunft von 900 Siemens-Mitarbeitern dran.

Ich kann nicht verstehen, dass in den Strategie-Szenarien der Standort Görlitz keine Rolle mehr spielt. Wenn Sie an den harten Zahlen messen, würde Görlitz unter den deutschen Standorten zur Schließung gar nicht zur Debatte stehen. Oder muss man das Gefühl haben, dass hier andere Einflussfaktoren oder Präferenzen mitwirken?

Herr Meixner, ich bitte Sie inständig, noch einmal die Entscheidungen zu überdenken! Wir in Görlitz haben zukunftsweisende Technologien (Magnetlagerung) und bedienen auch zukunftsträchtige Industriefelder (Solarthermie). All das erreichen wir mit hochmotivierten Arbeitskräften, die effizient und kostenbewusst arbeiten. Alle Mitarbeiter des Standortes stehen voll und ganz zu ihren Produkten und hinter Siemens (noch). Ich weiß, dass ich mit meinen Ängsten und Sorgen nicht alleine bin!