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„Ich bin der Enkelsohn-Typ“

Thomas Klinke ist Physiotherapeut in der Geriatrie in Radeburg. Die SZ hat ihn einen Tag begleitet und mit ihm über Personalnot und Erfüllung bei der Pflege gesprochen.

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© Ronald Bonß

Von Stephanie Wesely

Mit alten Menschen zu arbeiten, schreckt Thomas Klinke nicht. Hat er doch bereits seinen Großvater gepflegt. Punkt 8 Uhr tritt er seinen Dienst in der Fachklinik für Geriatrie in Radeburg an. Der Tag beginnt mit der morgendlichen Teambesprechung auf Station. Eine Kollegin ist krank. Ihre Patienten werden auf die anderen aufgeteilt. „Wir sind hier elf Physiotherapeuten – vier Männer und sieben Frauen“, sagt Klinke. Zum therapeutischen Team gehören neben Ärzten und Pflegepersonal auch Ergotherapeuten, Logopäden, Psychologen, Masseure und eine Musiktherapeutin.

Schwerer als es aussieht. Die Gummiringe müssen von einem Ständer an den Arm des Therapeuten gefädelt werden.
Schwerer als es aussieht. Die Gummiringe müssen von einem Ständer an den Arm des Therapeuten gefädelt werden. © Ronald Bonß
Anhocken und fest gegen meine Hand drücken.
Anhocken und fest gegen meine Hand drücken. © Ronald Bonß
Der Rollator bietet Sicherheit.
Der Rollator bietet Sicherheit. © Ronald Bonß

Die Shirts der Physiotherapeuten sind blau, die der Ergotherapeuten lindgrün, das Pflegepersonal und die Ärzte gehen in Weiß. Auch die Stationen haben unterschiedliche Farben. Das erleichtert den meist hochbetagten Patienten die Orientierung. „In der Geriatrie ist die Einweisungsdiagnose oft nicht das Hauptproblem. Unsere Patienten haben meist fünf und mehr Erkrankungen. Darauf müssen wir uns einstellen“, sagt Physiotherapeut Thomas Klinke. In der Reha sind sie meist aufgrund von operativ versorgten Knochenbrüchen, die sie sich durch Stürze zugezogen haben.

Die Klinik in Radeburg ist die erste berufliche Station für den 34-Jährigen Dresdner. „In der Geriatrie muss man auch mal schwere Patienten heben und stützen können. Junge Männer sind da immer willkommen. Deshalb wurde ich auch gleich genommen.“

8.30 Uhr holt Physiotherapuet Klinke seine erste Patientin aus ihrem Zimmer ab. Heidi Richter* aus Dresden ist seit einer Woche in der Reha. Nach einem Oberschenkelhalsbruch bekam sie eine künstliche Hüfte. „Der Bruch hätte nicht passieren dürfen“, sagt sie. „Ich pflege doch meinen Mann, und jetzt muss er wegen mir ins Heim.“ Der 84-Jährigen stehen die Tränen in den Augen. Allerdings hat sie die Pflege offenbar überfordert, das wird ihr jetzt klar. „Meine Wohnung wird saniert, sie ist sowieso jetzt zu groß für mich. Wahrscheinlich muss ich ausziehen.“

Sorgen wie diese hört Thomas Klinke fast täglich in seiner Behandlung. Sein Zuspruch tut gut. Ehe er mit seiner Behandlung beginnen kann, muss die Patientin auf die Toilette. „Das ist ganz oft so. Viele unserer alten Menschen sind auch inkontinent. Wenn sie sagen, dass sie müssen, ist es manchmal schon zu spät“, sagt er. „Aber das stört mich nicht. Da wird die Kleidung schnell gewechselt, und weiter geht’s.“

Die inneren Verletzungen nach der OP machen Heidi Richter Probleme. Das Bein ist noch geschwollen, und die entstauende Massage schmerzt. Auch beim Druck auf die Triggerpunkte zieht sie die Luft durch die Zähne. Doch danach fühlt sie sich besser. Die Schmerzen haben nachgelassen. „Sie sind ein Engel“, sagt sie dankbar.

Thomas Klinke arbeitet jetzt seit 13 Jahren in der Reha-Klinik und hat diesen Schritt noch nicht bereut, wie er sagt. „Ich empfinde eine große Erfüllung bei meiner Arbeit“, sagt er. In einer Rehaklinik müsse sich der Therapeut keine Sorgen darüber machen, welche Behandlungsmethode er auswählt und ob diese auch die Kasse übernimmt. Was gut ist für den Patienten, könne er nutzen. „Auch wenn ich statt den vorgesehenen 30 Minuten mal 45 brauche, ist das kein Problem. Das ist der Unterschied zur ambulanten Praxis.“

Physiotherapeuten und Masseure bilden nach dem Pflegepersonal die größte Berufsgruppe des nichtärztlichen Personals in deutschen Rehakliniken. Laut Statistischem Bundesamt sind mehr als 28 000 Pflegekräfte und über 15 000 Physiotherapeuten für die stationäre Behandlung der Reha-Patienten verantwortlich.

Mit Patient Rudi Seibold * redet Thomas Klinke über Dynamo. Der 72-Jährige konnte aufgrund seiner vielen anderen Erkrankungen nicht an der Hüfte operiert werden. Heute entscheidet der Arzt, ob die Belastung in der Therapie erhöht werden kann. Die Behandlungen dienen der Mobilisation und dem Erhalt seiner Selbstständigkeit. Seibold hat einen derben Humor. Kraftausdrücke sind da keine Seltenheit. Thomas Klinke kann sich darauf einstellen. Danach muss er aber sofort wieder die Gefühle wechseln. Denn Patientin Elisabeth Naumann* muss mit den sprichwörtlichen Samthandschuhen angefasst werden. Der operierte Schenkelhalsbruch der 89-Jährigen ist nicht das Hauptproblem. Sie leidet an Angstzuständen und braucht gerontopsychiatrische Behandlung. „Mir geht es gar nicht gut, ich habe so Angst, ich kann nicht mehr“, wiederholt sie gebetsmühlenartig. „Ist mein Geld noch in der Schublade, und habe ich noch Schokolade?“, will sie wissen. Thomas Klinke bestätigt alles und möchte, dass sie mal aufsteht und ein paar Schritte am Gehbänkchen läuft. Doch sie ist in Tränen aufgelöst, sie könne das nicht und möchte zuerst mit ihrer Tochter telefonieren. So lässt er sich von einer Schwester die Nummer der Tochter geben, ruft sie an und reicht das Telefon weiter. Glücklich spricht Elisabeth Naumann mit ihr über die Gaststätte, die die Tochter jetzt führt. Bis vor ihrem Sturz hatte die Mutter noch mitgeholfen, Gemüse geputzt und Tische gedeckt. Physiotherapeutisch ist bei ihr heute nicht viel vorwärtsgegangen. „Aber manchmal ist Zuhören und Trösten einfach wichtiger“, sagt Thomas Klinke.

Diese Vielseitigkeit ist es auch, die Klinke an seiner Arbeit schätzt. Der Mangel an Therapeuten in seinem Fachgebiet sorgt ihn deshalb sehr. „Aus meiner Sicht müsste das Schulgeld bundesweit abgeschafft und eine Ausbildungsvergütung gezahlt werden. Er selbst zahlte 55 Euro monatlich für die Ausbildung, hinzu kamen Fahrgeld und Unterkunftskosten bei Praktika, wofür er keinen Cent erhielt. „Der Beruf muss attraktiver werden, sonst stirbt er eines Tages aus.“ Die Arbeit sei so anspruchsvoll, dass man nicht mit Mindestlohn abgespeist werden dürfe. In Kliniken würde zwar besser bezahlt als in ambulanten Praxen. Doch eine Aufwertung sei auch hier dringend nötig. Dafür macht er sich zum Beispiel im Betriebsrat stark.

Bis zur Mittagspause sind noch drei weitere Patienten dran. Die Verzögerung zu Beginn des Arbeitstages lässt sich nicht mehr aufholen. Thomas Klinkes Mittagspause fällt entsprechend kürzer aus. Denn bevor die Patienten für den Nachmittag an die Reihe kommen, ist noch der Schreibkram dran. Wöchentlich ist Reha-Visite, die muss er heute vorbereiten. Gangbild, Bewegungsfortschritt, Wegstrecke und andere Parameter gilt es zu erfassen, das Therapieziel zu definieren und einzuschätzen, ob eine Verlängerungswoche nötig ist. „Der Schreibaufwand hat sich im Vergleich zum Beginn meiner Tätigkeit verzehnfacht. Die Dokumentation ist zwar wichtig, aber es ist leider auch wertvolle Therapiezeit, die da verloren geht“, bedauert Thomas Klinke.

Gegen 16 Uhr ist seine letzte Patientin dran. Annemarie Wittig ist schon 90 und fast vier Wochen in der Reha – auch wegen eines Oberschenkelhalsbruchs. Nun kann sie bald nach Hause. Das Treppensteigen geht schon sehr gut. Auch die Koordinationsübungen. Sie soll Gummiringe von einem Ständer nehmen und abwechselnd, mal mit links, mal mit rechts an Thomas Klinkes Arm hängen, dabei frei stehen und das Gleichgewicht halten. Sie lächelt ihn an und gibt sich extra Mühe, damit er mit ihr zufrieden ist. „Ich bin der Enkelsohntyp, ich weiß, da hat man es bei den älteren Damen besonders leicht“, sagt Thomas Klinke. Das mag vielleicht stimmen, doch dass er seine Arbeit mit Liebe tut, sieht ihm jeder an.

„Qualität ist uns sehr wichtig, unser fachlich hochqualifiziertes Personal ist unser größtes Gut“, sagt auch Claudia Fischer, die Therapieleiterin. „Unser Haus ist in eher ländlicher Gegend gelegen und hat bei der räumlichen Ausstattung vielleicht nicht ganz so viel zu bieten wie andere Einrichtungen. Gerade deshalb müssen wir mit der Patientenversorgung punkten.“

In der letzten halben Stunde seiner Dienstzeit kümmert sich Thomas Klinke um Hilfsmittelempfehlungen. Rollatoren, Gehgestelle, spezielle Gehstöcke oder Orthesen müssen für Patienten verordnet werden, die bald nach Hause können. Geduldig berät er die Patienten und ihre Angehörigen, erklärt die Funktion und beantwortet Fragen. „Die Leute müssen später ja auch damit zurechtkommen“, sagt er.

Endlich ist Feierabend, und Thomas Klinke freut sich auf seinen Fußballverein. Er spielt beim TuS Weinböhla und trainiert zusätzlich noch eine Mannschaft: „Ein guter Ausgleich zu meinen alten Leutchen in der Reha.“

*Name geändert