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Herzinfarkt im TV

Das ist die dramatische Geschichte eines Mannes aus Sachsen: Flutopfer, Talkshowgast, Pressefoto des Jahres und was daraus wurde.

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© Jürgen Lösel

Von Olaf Kittel

Apothekerin Katrin Winkler weiß sofort, wo das Foto mit den drei roten Autos aufgenommen wurde: Am Hinterausgang ihrer Apotheke in der Frauenstraße, gar nicht weit vom historischen Markt von Grimma entfernt. Sie hat mit dieser Information gern geholfen, sagt sie noch am Telefon, aber für nähere Auskünfte stehe sie nicht zur Verfügung. Über den Katastrophensommer 2002, wie es ihr und der Apotheke dabei ergangen ist, darüber könne sie auch heute noch nicht wirklich reden. Es tut noch zu weh. Entschuldigung vielmals.

Es dauerte Wochen, um den Mann auf dem „Sächsischen Pressefoto 2002“ jetzt wieder ausfindig zu machen.
Es dauerte Wochen, um den Mann auf dem „Sächsischen Pressefoto 2002“ jetzt wieder ausfindig zu machen. © Jürgen Lösel
Es ist Jörg Diecke aus Grimma, der am 14. August 2002 Trocknungsgeräte per Boot zu seinem überfluteten Haus fährt. Ein privates Foto zeigt ihn auf dem Weg dahin.
Es ist Jörg Diecke aus Grimma, der am 14. August 2002 Trocknungsgeräte per Boot zu seinem überfluteten Haus fährt. Ein privates Foto zeigt ihn auf dem Weg dahin. © Jürgen Lösel
2,1 Kilometer lang wird die Mauer, die künftig Grimmas Innenstadt schützen soll.
2,1 Kilometer lang wird die Mauer, die künftig Grimmas Innenstadt schützen soll. © Jürgen Lösel
Der Fotograf Jürgen Lösel war der erste SZ-Fotograf, der im überfluteten Grimma fotografierte. Jetzt traf er den Mann wieder, den er vor 16 Jahren ablichtete und schenkte ihm einen großen Abzug des Bildes. Lösel arbeitet als freier Fotograf in Dresden.
Der Fotograf Jürgen Lösel war der erste SZ-Fotograf, der im überfluteten Grimma fotografierte. Jetzt traf er den Mann wieder, den er vor 16 Jahren ablichtete und schenkte ihm einen großen Abzug des Bildes. Lösel arbeitet als freier Fotograf in Dresden.

Vor Ort in der Frauenstraße können über die Geschehnisse damals auch nicht mehr viele reden – weil die meisten weggezogen sind. Entweder direkt nach dem Hochwasser 2002, spätestens aber, nachdem die Mulde 2013 die Stadt noch einmal unter Wasser gesetzt hatte. Neue Mieter ohne Fluterfahrung zogen in die immer wieder schön sanierten Häuser. Die bisherigen Bewohner dagegen definierten eine gute Wohnlage ganz neu: Sie musste ab sofort vor allem hoch genug liegen.

Tamara Drasdziok gehört zu den wenigen Anwohnern, die ihrer Straße treu geblieben sind. Sie wohnt hier seit 70 Jahren. Im August 2002 hat sie aus ihrer trockenen Wohnung im ersten Stock die Tragödie live verfolgt, sie schaut direkt auf die Szenerie, die das Foto zeigt. Sie weiß hier alles und kennt jeden, sagen die Nachbarn. Kennt sie auch den Mann ohne Hose, der da ein Boot auf dem Foto über die Straße zieht? Frau Drasdziok hält sich das Bild ganz nah an die Augen und zögert höchstens eine Sekunde: „Das muss der Diecke sein. Seine Frau hat hier in der Nähe eine Zahnarztpraxis.“

Jörg Diecke ist daheim, aber krank. Seine Familie zeigt ihm das Foto, das später zum „Sächsischen Pressefoto des Jahres“ gekürt werden wird. Er ist es wirklich.

Als er wieder halbwegs auf den Beinen ist, treffen wir uns in der Frauenstraße. Hier hat sich wenig verändert, alles ist so schön saniert wie 2002. Nur ein paar Bäume wurden gepflanzt. Diecke, 62, erzählt, was damals geschehen ist. Genauer, es sprudelt aus ihm heraus, er ist kaum zu bremsen: Am 12. August, einem Montag, kam die Flut, am nächsten Morgen war nichts mehr wie zuvor. In seinem Haus zwei Straßen weiter stand das Wasser bis zur ersten Etage. Am nächsten Morgen kamen Hubschrauber, um die von Wassermassen eingeschlossenen Menschen zu evakuieren. Seine Familie flog mit, er nicht. Seiner fünf Hunde wegen, die durften nicht in den Hubschrauber. Erst am Abend holten Schlauchboote die Zurückgebliebenen.

Am Mittwoch dann wollte er um jeden Preis zu seinem Haus, um zu sehen, wie groß die Schäden sind. Aber die Polizei ließ ihn nicht durch. Also lieh er sich eine Feuerwehruniform und machte auf amtlich. Es funktionierte, er kam durch die Sperre. („Das ist doch heute verjährt, oder?“) Erleichtert stellte er fest, dass sein Haus noch stand, im Gegensatz zu vielen anderen, die eingestürzt waren. Zum Glück hatte er das alte Gemäuer gerade erst neu verputzt und ihm damit neuen Halt gegeben.

Einmal im Haus wollte er sich auch nützlich machen. Er bestellte Trocknungsgerät (wer weiß, wie lange noch welche zu haben wären) und ließ sie sich in die Frauenstraße bringen, wo das Wasser bereits abgeflossen war. Dann lieh er sich ein Ruderboot, das beim Nachbarn vorm Haus im Wasser auf der Straße schaukelte. Damit ruderte er zum Treff. Er zog die Hose aus, weil er das Boot gleich beladen und dann bis nach Hause durchs Wasser ziehen musste. Diesen Augenblick hält das SZ-Foto fest. Es war an jenem Mittwoch, an dem Kanzler Gerhard Schröder zum ersten Mal in das Katastrophengebiet geflogen war und Sachsen Hilfe versprach. Er muss ganz in der Nähe gewesen sein. Jörg Diecke bemerkte weder den Fotografen noch den Kanzler. Er hatte Wichtigeres zu tun.

Am nächsten Tag war die stinkende Brühe auch an seinem Haus abgeflossen, seine Familie kam zurück. Seine Frau war völlig fertig, als sie die zerstörte Arztpraxis sah. Aber schon in den nächsten ein, zwei Tagen klopften die ersten Helfer an die Tür. Sie rissen Familie Diecke aus der Lethargie. Sie konnten sich doch nicht vor Freiwilligen hängen lassen. Also begann das große Aufräumen sofort und die Planungen für die Sanierung gleich mit.

Und dann kam der Anruf aus dem Rathaus, noch in der ersten Woche. Ob Jörg Diecke, der seit 1991 für die Linke im Stadtrat sitzt, nicht am nächsten Sonntag zu Sabine Christiansen in die ARD-Talkshow kommen könne. Der Bürgermeister hatte natürlich keine Zeit. Diecke fuhr hin und schilderte anschaulich das Chaos von Grimma. Nach ihm sprach Jörg Kachelmann. Er berichtete, dass er die Flut bereits zwei Tage vorher fast auf den Zentimeter genau vorhergesagt habe, aber Beamte sich offensichtlich am Wochenende nicht in Bewegung setzen würden. Jörg Diecke regte das so auf, dass er einen Herzinfarkt bekam, mitten in der Sendung. Wieder Glück im Unglück: In Grimma wäre er damals wahrscheinlich nicht so schnell ins Krankenhaus gekommen. Acht Wochen später, nachdem er wieder hergestellt war, saß er noch einmal in der Sendung und berichtete über die Hilfen und die Fortschritte in der Stadt.

Elf Jahre später, seine Frau arbeitete längst wieder in ihrer sanierten Praxis, er widmete sich seiner kleinen Bison-Farm und dem Indianistik-Hobby, da schlug das Mulde-Hochwasser wieder zu. Wieder stand das Wasser bis zur ersten Etage, wieder war die Praxis verwüstet. Alles begann noch einmal von vorn.

Weiß Frau Drasdziok etwa auch, wem die drei roten Autos auf dem Foto gehörten? „Die sind nicht von hier“, meint sie. „Die kamen von weiter her angeschwommen und verkeilten sich an der Häuserecke.“ Die Polizeidirektion Leipzig und das Landratsamt wollten gern helfen, die Halter zu ermitteln. Aber leider – solche Daten werden nicht so lange aufgehoben. Es sei aber von Totalschaden auszugehen und dass es „zur Außerbetriebsetzung kam“. Das ist schwer anzunehmen. Aber wer damals ein durch die Flut geschädigtes Auto und eine Kaskoversicherung hatte, bekam im Regelfall den Schaden ersetzt. Außer: Ihm konnte nachgewiesen werden, dass er sein Auto rechtzeitig hätte wegfahren können. Weil er gewarnt wurde. Aber eine solche Hochwasserwarnung war ja in Grimma ausgefallen.

Apotherikerin Katrin Winkler lässt sich vor Ort doch noch überrumpeln und ist zu einem Gespräch bereit. Sie berichtet, wie die Flut die Apotheke ihrer Eltern damals komplett unter Wasser setzte. 20 Zentimeter fehlten bis zur Decke. Die Medikamente waren verloren, die komplette Einrichtung auch. Sie selbst studierte damals Pharmazie, kam aber rasch nach Grimma und zog die Gummistiefel an. Sie kämpfte gegen Wasser, Schlamm und Müll, bis an den Rand der Erschöpfung. Tag für Tag. Ein halbes Jahr später, viel war schon geschafft, nahmen sich ihre Eltern das Leben. Sie fand die beiden im Keller der Apotheke.

Wer kann so etwas jemals verwinden?

Katrin Winkler entscheidet sich nach dem ersten Schock, das Studium abzuschließen und dann die Apotheke doch zu übernehmen. Bald läuft sie wieder, die Apotheke ist wichtig in Grimma.

Bis im Frühjahr 2013 das nächste Hochwasser kommt. Es ist alles noch schlimmer. Katrin Winkler muss aus der ersten Etage per Boot evakuiert werden. Das Wasser steht tagelang in der Apotheke, der Schaden ist deshalb noch größer. Aber auch davon lässt sie sich nicht unterkriegen und baut mit ihren Mitarbeitern alles wieder auf. Die Apotheke ist heute wieder ein Schmuckstück in Grimmas Innenstadt. Die Versicherungsprämie freilich ist noch einmal stark gestiegen und die Höhe der Selbstbeteiligung auch.

War es das nun mit den Fluten in Grimma? Ist die Gefahr gebannt? Es gibt keine Fragen, die die Bewohner der Innenstadt mehr bewegen als diese. Jahrelang ging der Streit um eine 2,1 Kilometer lange Mauer, die in der Innenstadt direkt an der Mulde entlang gebaut werden sollte. Den einen störte sie zu sehr das Stadtbild, die anderen hatten Umweltbedenken. Jörg Diecke platzte eines Tages im Stadtrat der Kragen: Was denn wichtiger sei als Menschen zu schützen? Und er überspitzte polemisch, dass er für die Mauer sogar die berühmte Pöppelmannbrücke, das Schmuckstück der Stadt, opfern würde. Große Aufregung im Saal.

Inzwischen ist die Mauer fast fertig, es fehlt nur noch ein letztes Stück. Sollte es jetzt plötzlich Hochwasser geben, würden rasch bereit liegende Sandsack-Paletten die Lücke verschließen. Darauf legen jetzt alle Seiten größten Wert. Aber klar, schön ist die Mauer nicht, auch wenn sie noch verkleidet werden soll. Im Moment erinnert sie an die Berliner Mauer, nur nicht ganz so hoch. Aber alle wissen jetzt: Ohne das 70 Millionen Euro teure Monstrum geht es nicht. Der eine oder andere Bürger sorgt sich inzwischen sogar schon, ob die Mauer wirklich hoch genug ist, um künftige Fluten abzuhalten. Die Überschwemmungen von 2013 hätte sie verhindert, so viel ist klar. Bei einem Hochwasser wie 2002 würde es aber schon sehr knapp werden.

Die Mauer muss halten. Der Bürgermeister weiß es, der Stadtrat und alle, die in der Innenstadt etwas zu verlieren haben. So richtig mag sich niemand ausmalen, was eine dritte Überschwemmung bedeuten würde. Jörg Diecke, den so schnell nichts umwirft, hat hingenommen, dass die Mauer jetzt direkt an sein Grundstück grenzt. Sie ist für ihn und für die Stadt eine Lebensversicherung. „Es darf nicht ein drittes Mal passieren. Dann macht meine Frau die Praxis dicht.“

Und, als hätten sie sich abgesprochen, erklärt Katrin Winkler noch deutlicher: „Noch einmal baue ich die Apotheke nicht auf. Dafür habe ich nicht die Kraft. Wenn es wirklich noch einmal passiert, dann verwaist diese Stadt.“