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Heimweh kann krank machen

Eine Langzeitstudie mit 150 Auslandsstudenten zeigt, wer besonders leidet. An sächsischen Unis wird vorgebeugt.

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© Archivfoto: dpa

Von Stephanie Wesely

Elena weiß noch genau, wie sich die Sehnsucht nach zu Hause anfühlt, auch wenn sie schon seit mehr als 20 Jahren in Deutschland lebt. Mit 17 verließ sie ihren kleinen Wohnort in Sibirien, um in Moskau Germanistik zu studieren. „Es war die beste Universität, eine Elite-Universität würde man heute sagen. Dorthin wollte ich unbedingt“, sagt sie. Doch Moskau war 3500 Kilometer entfernt. Da konnte sie nicht mal schnell heimfahren. „Das war schwer. Ich habe damals viel geweint. Meine Gedanken kreisten ständig um meine Familie und Freunde, die ich zurückgelassen habe“, sagt die heute 44-Jährige. Nach Moskau setzte sie ihr Studium in England fort, wechselte mit 24 nach Deutschland und lebte auch dort in mehreren Städten. „Das hat mich stark gemacht. Nach Moskau war es mit dem Heimweh nie wieder so schlimm“, sagt Elena. Sie arbeitet nun in Erlangen und hat eine Familie gegründet.

Der Psychologie-Professor Stefan Stieger von der Universität Krems (Österreich) hat jetzt eine Langzeitstudie zum Heimweh von Auslandsstudenten vorgestellt, die weltweit einmalig sein soll. Denn sie fand bereits während des Auslandsaufenthalts der Studenten statt. Möglich wurde dies durch eine Smartphone-App, mit der Probanden über einen Zeitraum von drei Monaten nach Studienbeginn Fragebögen ausfüllen sollten. „Frühere Untersuchungen wurden meist durchgeführt, als die Betroffenen wieder heimgekehrt waren. Ihre Aussagen wurden da durch die Erinnerung gefiltert“, sagt er. Das verkläre den Blick.

Ehrenamtliche Paten helfen

Seine Ergebnisse zeigen: Heimweh schmerzt, sogar mehr als das. „Es beeinflusst die Denkleistung, führt zu gesundheitlichen Störungen, Lernschwierigkeiten, Zurückgezogenheit und allgemeinen psychischen Problemen“, so Stieger. Doch nicht bei allen Probanden gleichermaßen. Denn besonders stark und anhaltend waren die Beschwerden bei Studenten, die emotional eher instabil und wenig selbstständig waren. Aber auch Personen, die als besonders umgänglich erscheinen, litten stärker als andere. „Das erscheint zunächst vielleicht widersinnig“, so Prof. Stieger. „Doch dieser Zusammenhang lässt sich damit erklären, dass so veranlagte Personen darunter leiden, dass sie den Wünschen und Bedürfnissen von Freunden und Familie daheim nicht mehr gerecht werden.“ Die Datenauswertung ergab aber auch, dass das Heimweh zu Beginn des Studienaufenthaltes am stärksten war, danach meist rasch wieder abflaute.

Auch Elena sagt, sie habe schnell neue Freunde gefunden. Sie sei ein offener Mensch und gehe gern auf andere zu. „Doch ich habe auch Tiefpunkte erlebt, die kein noch so frohes Ereignis aufwiegen konnte.“ In den Universitäten war sie meist auf sich gestellt. „Ich hätte mir mehr Unterstützung gewünscht“, sagt sie.

Heute studieren an den sächsischen Unis in Dresden, Leipzig und Chemnitz viele Ausländer. Etwa jeder Vierte ist nichtdeutscher Herkunft. „Der größte Teil kommt aus China und Indien“, heißt es übereinstimmend aus den jeweiligen Rektoraten. Um ihnen den Aufenthalt zu erleichtern, gibt es internationale Universitätszentren an den Hochschulen.

„Besonders bewährt hat sich unser Patenschaftsprogramm“, sagt Mario Steinebach von der Uni Chemnitz. „Etwa hundert ehrenamtliche Paten aus dem Kreis der Studierenden unterstützen unsere ausländischen Absolventen. Sie begleiten bei Behördengängen, helfen bei der WG-Suche, zeigen die Stadt und den Campus.“ In Dresden gibt es etwas Vergleichbares, es nennt sich Tutorenprogramm. Die Sprache sei natürlich die größte Hürde. Beim sogenannten Sprach-Tandem profitieren beide Seiten, sagt Steinebach. „Biete Englisch, suche Chinesisch“, heißt es da öfter. Mitunter entwickelten sich über dieses Patenprogramm Freundschaften, die über das Studium hinaus Bestand haben.

Das deckt sich auch mit den Studienergebnissen von Stefan Stieger. „Das Heimweh war bei solchen Studenten geringer ausgeprägt, wo die Hochschulen Unterstützung beim Einleben gewährten.“ Positiv wirkten sich auch frühere Auslandsaufenthalte aus und eine Bereitschaft zur Identifikation mit der Gastnation.

Auch wenn das Heimweh dadurch vielleicht schneller wieder vergeht, zu spüren bekämen es wohl die meisten, egal wie groß die Entfernung ist, so Stieger.

Aus der Sicht von Beatrix Stark, psychosoziale Beraterin der Uni Leipzig, sei Heimweh nicht zwangsläufig etwas Negatives. „Heimweh ist normal. Man darf es sich ruhig gönnen, auch mal traurig zu sein. Keiner erwartet, dass jeder jeden Tag fröhlich ist.“ Solange es kein Dauerzustand wird.

Doch auch das hat sie in ihrer Beratertätigkeit erlebt. „Manche Studierende kamen völlig unvorbereitet an die Uni und sind vorher sehr behütet aufgewachsen. Sie kamen mit den Veränderungen nicht zurecht und wollten ihr Studium hinschmeißen“, sagt sie. Wichtig sei es, in solchen Situationen nicht allein zu bleiben und die Probleme mit sich abmachen zu wollen. Hilfe gebe es zum Beispiel durch die psychosozialen Beratungsstellen an den sächsischen Unis. „Vielen genügt es bereits, über ihr Heimweh zu sprechen. Das erleichtert und macht den Kopf wieder frei für die vielen neuen Möglichkeiten, die das Studium bietet.“ Auch Mitstudenten könnten helfen, indem sie anbieten, für den anderen da zu sein und ihm etwas Gutes zu tun.

Leistungsdruck und Ängste

Das Studentenalter sei aber ohnehin aus psychischer Sicht eine sehr komplizierte Zeit. Wie der aktuelle Arzt-Report der Barmer gezeigt hat, leidet jeder sechste Student in Sachsen an psychischen Problemen oder gar Krankheiten. Jeder Dritte nimmt Antidepressiva. Seit 2005 hätten die Verordnungen um 60 Prozent zugenommen. Vor diesem Hintergrund sei für Beatrix Stark das Heimweh nur der Auslöser und ein Verstärker. Die Hauptursache für die psychischen Probleme seien meist Leistungsdruck und Versagensängste.

Doch das lässt sich überwinden. „Indem man sich klar macht, was man wirklich will, wo Stärken und Schwächen liegen“, so Beatrix Stark. Zudem gebe es an jeder Uni Möglichkeiten, sich zu vernetzen. Eine kurze Auszeit zu Hause zu verbringen, helfe auch oft, doch der Abschied falle dann umso schwerer.

Elena war anfangs einmal im Jahr in ihrer Heimat, jetzt seit über 20 Jahren nicht mehr. „Ich kann mir auch im Moment nicht vorstellen, wieder nach Sibirien zu fahren“, sagt sie. Ihre neue deutsche Familie gibt ihr neue, starke Wurzeln. Sie ist jetzt ganz in Deutschland angekommen.