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Görlitzer Waggonbauer mit Schweizer Handicap

Beim neuen Zug einigen sich Staatsbahn und Behindertenlobby in Teilen. Doch der Milliardenjob bleibt ein Fall der Justiz.

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© SBB

Von Michael Rothe

Görlitzer Waggonbauer brauchen starke Nerven. Nicht nur, wenn, wie am Donnerstag, der kanadische Mutterkonzern zu Quartalszahlen auch neuen Stellenabbau ankündigt. Auch wenn man, wie zu Wochenbeginn, als mittelbar Beteiligter auf einen Rechtsstreit in der Schweiz schaut. Dort geht es um den zum Großteil an der Neiße gebauten Twindexx Express, einen Doppelstockzug für die Schweizer Staatsbahn SBB. In Summe 59 Schnellzüge im Wert von fast 1,7 Milliarden Euro, von denen die ersten 2013 unterwegs sein sollten.

Mit gut vier Jahren Verzögerung startete im Februar die erste Fahrt mit Kunden, sind seitdem „zehn Züge testweise und zu Schulungszwecken im Fern- und Interregioverkehr im Einsatz“, wie von der SBB zu erfahren war. Für die erste große Verspätung hatten die Schweizer den Hersteller in Sachsen verantwortlich gemacht. Der Wagenkasten sei so konzipiert, dass die Züge den Anforderungen für Fahrten mit 200 Stundenkilometern im Gotthard-Basistunnel nicht genügten, hieß es. Die Beteiligten einigten sich auf drei zusätzliche Züge zum Nulltarif, insgesamt 62 Gespanne.

Auch die neue Terminplanung war bald hinfällig, weil die Organisation Inclusion Handicap, Dachverband der Behindertenorganisationen, Mängel zum Nachteil seiner Klientel erkannt und die befristete Betriebsbewilligung gerügt hat. Wegen zu steiler Rampen könnten beispielsweise Rollstuhlfahrer nicht allein ein- und aussteigen, heißt es. Die vorgebrachte Mängelliste umfasst 15 Punkte, obwohl alle Interessenten bereits 2011 ein 1:1-Holzmodell besichtigen und testen konnten.

Der Vorgang liegt seit Jahren bei Gericht und verzögert die Auslieferung weiter. Der Traum vom Milliardendeal könnte somit zum Trauma werden. Zu Wochenbeginn ein kleiner Lichtblick: Inclusion Handicap und SBB einigen sich außergerichtlich auf vier Maßnahmen, die jenseits des Verfahrens realisiert werden: zusätzliche Entspiegelung der Kundeninformations-Monitore im Zug, Umsetzung eines durchgängigen taktilen Leitsystems. Ferner soll eine Kennzeichnung an den Wagenübergängen das Stolperrisiko vermindern und auf Vorrangsitze für Menschen mit reduzierter Mobilität besser hingewiesen werden – unterm Strich Dinge, mit denen die Görlitzer als Spezialisten für Wagenkästen nicht unmittelbar zu tun haben.

Derweil sind körperlich nicht eingeschränkte Zugfahrer laut Zeitungsberichten voll des Lobes über die neuen Züge. Sie verkehren zunächst zwischen Zürich und Bern sowie Zürich und Chur. Die Gefährte für die Eidgenossen ähneln höchstens auf den ersten Blick jenen Intercity-2-Zügen, die seit Ende 2015 in Deutschland unterwegs sind – etwa zwischen Dresden und Köln, Leipzig und Norddeich an der Nordsee sowie ab Dezember 2019 von Dresden via Berlin nach Rostock/Warnemünde. Die Schweizer Züge sind komfortabler, haben zum Beispiel Wlan und ein Bordrestaurant.

Auch bei dem lichtgrauen Doppeldecker der Deutschen Bahn hatte es Ärger gegeben. Erst kamen die Züge vom Görlitzer Werk mit zwei Jahren Verspätung zur Auslieferung. Und als sie da waren, wurden Reisende in den schwankenden Waggons seekrank, funktionierten die Türen nicht, wie sie sollten, schwächelte die Fahrzeugsteuerung. Folge: Reklamationen, Verspätungen, Unmut der Kunden. Mittlerweile sind diese Kinderkrankheiten behoben.

So einfach dürfte es in der Alpenrepublik nicht werden, auch wenn Bombardier die von den Behinderten vorgebrachten Mängel kaum zu verantworten hat. Denn der Ausstattungsgrad obliegt dem Besteller, und der Hersteller baut lediglich ein, was Deutsche und Schweizer Bahn wünschen.

Sollte das Bundesverwaltungsgericht Inclusion Handicap recht geben und eine Anpassung der vermeintlich zu steilen Rampe anordnen, hätte das weiteren Verzug und Mehrkosten von mehreren Hundert Millionen Euro zur Folge, heißt es von den SBB. Es müssten „umfangreiche Konstruktionsanpassungen erarbeitet, im erneuten Zulassungsprozess genehmigt und auf den weitgehend fertiggestellten Fahrzeugen baulich umgesetzt werden“. Rund 60 Prozent der nur aus Görlitz kommenden Wagenkasten-Rohbauten sind fertig, ist gut die Hälfte der Waggons endmontiert, verlautet von Bombardier. Die Ostsachsen widmen sich Oberfläche, Isolation und Verrohrung, während im schweizerischen Villeneuve unter anderem Verkabelung, Endmontage und Prüfung erfolgen.

Nach jahrelanger Unsicherheit hatte Bombardier im September für das Werk Görlitz mit rund 1 200 Beschäftigten eine Standortgarantie abgegeben – ebenso für die Fabrik in Bautzen, wo etwa 1 000 Beschäftigte S-, U-, und Straßenbahnen bauen. Doch entspannte Ruhe sieht anders aus.

Trotz des am Donnerstag bilanzierten guten dritten Quartals verkündete Konzernchef Alain Bellemare in Montreal ein neues Sanierungsprogramm. Durch Effizienzsteigerung – flachere Führungsebenen, modernere Informationstechnologien, Bürokratieabbau – will der kanadische Konzern in den nächsten 18 Monaten etwa 5 000 seiner weltweit 69 500 Stellen streichen und so jährlich 220 Millionen Euro einsparen. Dabei läuft beim angeschlagenen Flugzeug- und Zughersteller bereits ein Sparprogramm – inklusive eines Abbaus von 5 500 Jobs, von denen 2 200 auf Bahnwerke in Ostdeutschland entfallen.

„Bombardier steht zu der im März 2018 einvernehmlich mit der Arbeitnehmervertretung beschlossenen Vereinbarung zur Neuausrichtung in Deutschland“, heißt es nun. Das Unternehmen liege mit der Transformation voll im Plan: Standortspezialisierung, Produktstandardisierung und Investitionen in die Digitalisierung würden erfolgreich vorangetrieben. Entsprechend stehe Deutschland auch „nicht im Fokus dieses globalen Stellenabbaus“, gibt der Konzern auch für Görlitz und Bautzen Entwarnung. Und, wichtig für die Schweizer Abnehmer: Die Maßnahmen hätten keinen Einfluss auf Kundenverpflichtungen. Die Staatsbahn SBB quält sich derweil weiter mit dem Behindertenverband. Von den 15 monierten Punkten ist zwar ein Viertel ausgeräumt, aber die größte Sorge bleibt.