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Europas modernstes Stellwerk

Signal- und Weichenstellung per Licht. Das digitale Stellwerk soll die Zukunft der Bahn sein. In Annaberg-Buchholz läuft die erste Anlage, die zweite ist in Planung. Woanders lässt der Fortschritt noch auf sich warten.

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© Monika Skolimowska/dpa

Von Martin Kloth

Annaberg-Buchholz. Heiner Riedel braucht Kraft, nicht viel, aber immerhin. Im Bahnhof Cranzahl stellt der Fahrdienstleiter Signale und Weichen per Muskelkraft. Wie schon viele seiner Vorgänger seit Ende des 19. Jahrhunderts legt er große Hebel um und lenkt so über Gestänge, Drahtseile und Rollen die Züge der Erzgebirgsbahn in dem Grenzbahnhof zur Tschechischen Republik aufs richtige Gleis. „Bei Frost hängt man da ganz schön dran“, sagt er. Schon ohne die Witterungserschwernis sind 15 bis 20 Kilogramm zu bewegen.

Das Stellwerk der Zukunft

Nostalgie zum Stempelkissen.
Nostalgie zum Stempelkissen.
Fahrdienstleiter Gregor Traufelder arbeitet in einem Bedienraum im Bahnhof Süd.
Fahrdienstleiter Gregor Traufelder arbeitet in einem Bedienraum im Bahnhof Süd.
Michael Freudenberg, Projektleiter Leit- und Sicherungstechnik, erklärt die Funktionsweise eines digitalen Stellwerks im Bahnhof Süd.
Michael Freudenberg, Projektleiter Leit- und Sicherungstechnik, erklärt die Funktionsweise eines digitalen Stellwerks im Bahnhof Süd.
Vom Fahrdienstleiter zum Zuglotsen: Gregor Traufelder.
Vom Fahrdienstleiter zum Zuglotsen: Gregor Traufelder.
Hoch die Kelle: Fahrdienstleiter Heiner Riedel steht auf einem Bahnsteig im Bahnhof Cranzahl.
Hoch die Kelle: Fahrdienstleiter Heiner Riedel steht auf einem Bahnsteig im Bahnhof Cranzahl.
Neztwerkkabel stecken in einem Modul eines digitalen Stellwerks im Bahnhof Süd.
Neztwerkkabel stecken in einem Modul eines digitalen Stellwerks im Bahnhof Süd.
Industriebatterien für den Fall eines Stromausfalls.
Industriebatterien für den Fall eines Stromausfalls.
Weichenstellen in Warmen mit Muskelkraft statt Mausklick.
Weichenstellen in Warmen mit Muskelkraft statt Mausklick.
Fahrdienstleiter Heiner Riedel stellt die Weiche fürs digitale Zeitalter.
Fahrdienstleiter Heiner Riedel stellt die Weiche fürs digitale Zeitalter.
Ein Dieseltriebwagen der Erzgebirgsbahn überquert den Eisenbahnviadukt.
Ein Dieseltriebwagen der Erzgebirgsbahn überquert den Eisenbahnviadukt.

Nur zwei Stationen weiter bietet sich ein ganz anderes Bild. Sieben Zugminuten entfernt werkelt die Zukunft: Im Bahnhof Annaberg-Buchholz Süd hat die Deutsche Bahn AG das nach eigenen Angaben erste digitale Stellwerk (DSTW) Europas in Betrieb genommen. Solch einen Superlativ wollte das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) auf Anfrage nicht verwenden, bestätigte aber: „Das Stellwerk in Annaberg-Buchholz ist in der Tat das erste digitale Stellwerk hierzulande.“

Ein unscheinbares Steinhaus neben dem alten Bahnhofsgebäude beherbergt das Stellwerk 5.0. Die fünfte Generation steckt in einem Schaltschrank, ist schwarz und unwesentlich größer als ein Aktenkoffer. Graue, rote und gelbe Kabel ragen heraus, grüne und orangfarbene Dioden blinken. Eine Tür weiter steht ein Bildschirm im Schrank, auf dem schematisch die Signal- und Gleisanlagen aufgerufen und bei Bedarf einzeln auf Fehlermeldungen überprüft werden können.

Im Nachbarraum sitzen die Fahrdienstleiter. Fünf Angestellte steuern die Weichen und Signale für die Strecke ab Flöha. Während Heiner Riedel körperlichen Einsatz zeigen muss, reicht seinen Kollegen dafür ein Mausklick. Doch nur in Annaberg-Buchholz Süd werden so die Weichen auch digital angesteuert. Alles weitere läuft noch über das Stellwerk der vierten Generation, das elektronische Stellwerk (ESTW).

Am 18. Januar hatte das Eisenbahn-Bundesamt nach einer Testphase seit November 2016 die Zulassung für das DSTW gegeben. Nur einen Tag später wurde die neue Generation in Betrieb genommen. Seither werden in Annaberg-Buchholz Lichtwellen zu einem grauen Kasten unterhalb eines Signals im Außenbereich gesendet und so drei Weichen und zwölf Signale angesteuert. Pro Tag passieren 36 Reisezüge den Bahnhof. „Das digitale Stellwerk wird die Zukunft sein“, sagte Lutz Mehlhorn, Geschäftsführer der Bahn-Tochter Erzgebirgsbahn. „Wir hätten das hier nicht gebraucht, wir ebnen hier nur den Weg in die Zukunft.“

Die Vorteile der neuen Technik liegen für die Bahn auf der Hand: größere Verlässlichkeit des Zugverkehrs, Kostenersparnis in Millionenhöhe, weniger Aufwand für Betrieb und Instandhaltung. Derzeit muss zum Beispiel alle elf Kilometer ein sogenanntes abgesetztes elektronisches Stellwerk (ESTWa) stehen, um die Signale weiterzugeben, erläutert Michael Freudenberg, Projektleiter Leit- und Sicherungstechnik bei der DB RegioNetz Infrastruktur GmbH Erzgebirgsbahn.

„Diese abgesetzten Stellwerke können dann entfallen“, sagt er. Die Lichtwellen müssen nicht mehr verstärkt werden. Datenmengen sind keine Grenzen gesetzt, so dass weitere Systeme über die Glasfasertechnik gesteuert werden kann. Laut Bahn soll dies den Weg zum automatisierten Fahren ebnen. Der Arbeitsplatz des Fahrdienstleiter ist dann noch flexibler.

Dass das DSTW ausgerechnet in der sächsischen Provinz erprobt wird, hat seinen Grund. „Wir haben kurze Entscheidungswege“, sagt Mehlhorn. „Die Erzgebirgsbahn versteht sich innerhalb der großen Deutschen Bahn als eine Art Labor.“ So wurde vor dem deutschlandweiten Einsatz 2006/2007 schon die Weiterentwicklung des ESTW auf Herz und Nieren getestet. „Wir pilotieren nicht nur für die Erzgebirgsbahn, sondern für die ganze Bahn“, betont Freudenstein.

Bundesweit gibt es bei der Deutschen Bahn rund 2800 Stellwerke - und zwar aller Generationen. Mechanische Stellwerke wie bei Heiner Riedel in Cranzahl waren es 2016 laut Unternehmen 752 oder 27 Prozent. Elektromechanische Stellwerke (2. Generation) wurden 321 aufgelistet, ESTW mit 361 nur unwesentlich mehr. Den Löwenanteil stellten die in den 1950er Jahren in Betrieb genommenen Relaisstellwerke (3. Generation) mit 1298 und damit fast die Hälfte.

Die alte und teils störanfällige Technik soll nach und nach durch die IP-basierten Technik ersetzt werden. Im kommenden Jahr soll in Warnemünde das zweiten digitale Stellwerk seine Arbeit aufnehmen. Dies sei ein Vorserienprojekt und damit ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Serienreife, teilte das Eisenbahn-Bundesamt mit. (dpa)