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Erkannt

Erika Brückner aus Oderwitz weiß, wer die deutsche Familie auf den in einem Versteck in Kopaczów gefundenen Fotos ist.

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Von Holger Gutte

Erika Brückner blättert in ihrem ältesten Fotoalbum. All die Erinnerungen kommen wieder hoch. Die Fotos auf den ersten Seiten hat die heute 84-jährige Oderwitzerin alle gerettet. Dass sie dabei ihr Leben riskierte, ist ihr erst viele Jahre später bewusst geworden. Die Fotos zeigen sie und ihre Familie bis zum Winter 1944/45. Die meisten Bilder sind in Oberullersdorf aufgenommen worden. Dort – im heutigen Kopaczów, das nun zur Gemeinde Bogatynia in Polen gehört, hat ihre Familie bis zur Vertreibung der Deutschen im Mai 1945 gelebt. Erika Brückner – damals hieß sie noch Paul – war zu jener Zeit zehn Jahre alt.

Erika Brückner schaut sich in Oderwitz die von ihr geretteten Familienfotos aus der Zeit vor 1945 an.
Erika Brückner schaut sich in Oderwitz die von ihr geretteten Familienfotos aus der Zeit vor 1945 an. © www.foto-sampedro.de
Eugeniusz Rataj hat die Fotos entdeckt.
Eugeniusz Rataj hat die Fotos entdeckt. © Matthias Weber
Das Bild zeigt Erika Brückner – geborene Paul – als Neunjährige mit einer Freundin in Oberullersdorf vor der Bäckerei. Das Haus dahinter ist die Schule.
Das Bild zeigt Erika Brückner – geborene Paul – als Neunjährige mit einer Freundin in Oberullersdorf vor der Bäckerei. Das Haus dahinter ist die Schule. © privat

Jetzt hatte sie eine Verwandte genau wegen dieser Zeit besucht. Sabine Möbius wusste, dass Erika Brückner aus Oberullersdorf stammt und wollte ihr einen Artikel in der SZ vom 30. Mai zeigen. Unter der Überschrift „Alte Fotos auf Dachboden in Polen gefunden“ berichtete die SZ, dass Eugeniusz Rataj in einem Versteck auf dem Dachboden seines Hauses alte Fotos gefunden hatte. Mit seiner Familie wohnt er seit 1998 in der ehemaligen Schule von Oberullersdorf. Er vermutet, dass das Versteck die einst hier lebende deutsche Familie kurz vor der Vertreibung 1945 angelegt hatte.

Eugeniusz Rataj würde gern wissen, was aus der deutschen Familie geworden ist, die früher hier lebte. Er kann ihre Vertreibung gut nachempfinden. Auch seine Familie ist 1945 vertrieben worden. Die Heimat seiner Eltern liegt nun in der Westukraine. Schon vor einigen Jahren hat er angefangen, die Geschichte seiner Familie zu recherchieren. Vielleicht würden sich die Angehörigen der deutschen Familie über die alten Familienfotos freuen, schildert er. Er möchte sie ihnen gern wiedergeben und sie zu sich einladen.

Erika Brückner erkennt auf einem der beiden Fotos in der SZ sofort ihren Lehrer wieder. „Das ist unser Kantor Fiebiger. Und rechts daneben ist seine Frau“, sagt sie. Ihre Tochter hieß Felicitas. Kantor Kurt Fiebiger wohnte in der Schule in der Wohnung im Obergeschoss, die jetzt Eugeniusz Rataj gehört. Gegenüber der Wohnung befand sich im Obergeschoss noch ein Klassenzimmer, Dort hat er alle Fächer unterrichtet und soweit sich Erika Brückner erinnern kann, auch alle Schüler in einer Klasse. Es war ja sonst niemand mehr da“, erzählt sie. Die anderen sind alle zur Wehrmacht eingezogen worden. Und irgendwann im Frühjahr 1945 gab es gar keinen Unterricht mehr.

Erika Brückner kann sich gut an die Vertreibung im Mai 1945 erinnern. Vormittags hieß es plötzlich, binnen einer Stunde müssen alle ihre Häuser verlassen haben, so wie in allen Orten jenseits von Oder und Neiße. In Herrnhut endete dann erst mal der Fußmarsch für die verzweifelten Leute. „Wir dachten alle, dass wir zurückkönnen. Meine Mutter hatte sogar mein neues Kleid nicht mitgenommen, weil sie es im Koffer nicht zerknittern wollte“, schildert sie. Weil sie Verwandte in Oderwitz hatten, wurden sie dort aufgenommen. „Ich hatte immer Heimweh. Wir hatten so einen schönen großen Garten“, sagt sie.

Heimlich ist sie von Oderwitz immer mit dem Zug nach Reichenberg (Liberec) mitgefahren. Der fuhr noch und hielt in Oberullersdorf. Das hatten viele Kinder gemacht. Sie wollten noch möglichst viel aus ihren Häusern holen. „Wir hatten im Bienenhaus den Familienschmuck und Honiggläser vergraben“, erzählt sie. Den fand sie auch. Aber sonst war das ganze Haus verwüstet und geplündert – auch ihr Fahrrad, mit dem sie oft die kurze Strecke bis Zittau gefahren war. Die Familienfotos fand sie noch auf dem Fußboden. Auch die Tiere waren weg. Sie hatten die Kaninchen, Hühner und Ziegen rausgelassen, als sie wegmussten. Trotzdem ging sie fast den ganzen Sommer immer wieder rüber. Beim Schmuck hatte ihr aber ein Nachbar geholfen, da er es für zu gefährlich hielt. Weil er Schneider war, durfte er bleiben und musste die Kleidungsstücke aus den Häusern für die Polen ändern, schildert sie. In seinem Holzbein brachte er den Schmuck bei der Chopinstraße in Zittau über die Neiße. Eines Tages wurde sie erkannt. Die Polen, die schon einige Jahre auf dem Rittergut im Dorf gearbeitet hatten, sind ja dageblieben. Sie sahen sie und suchten nach ihr. „Unser Nachbar hatte mich im Keller versteckt.“

Als einer der Polen heiratete, trauten sich auch die Erwachsenen zurück nach Oberullersdorf. Sie kannten das Hochzeitspaar. Ihre Kinder hatten zusammen gespielt. Dann aber wurden sie alle in einer Scheune über Nacht eingesperrt. Von da an ging niemand mehr rüber, schildert sie. Ihre Mutter hatte sich danach riesige Vorwürfe gemacht, dass sie sie hat immer wieder rübergehen lassen. Den Kontakt zum Kantor hatte sie schon in Herrnhut verloren.