Merken

Die toten Frauen von Plauen

Der Erste Weltkrieg war fast vorbei, als eine Explosion Hunderte Menschen in den Tod riss. Der Opfer wird noch heute gedacht.

Teilen
Folgen
© dpa

Von Manuela Müller

Es ist heiß an jenem Freitag, der jetzt 100 Jahre zurückliegt. Der 19. Juli 1918. Im AEG-Glühlampenwerk im Plauener Westend produzieren die Frauen keine Glühfäden mehr, sondern Munition für ihre Männer an der Front. Die Welt führt seit vier Jahren Krieg.

Erst seit sieben Jahren steht der Betrieb in Plauen. 1917 baute die AEG Berlin ihn zur Schießpulverfabrik um. Vier Etagen, große Räume, Platz für 484 Arbeiter. Im ersten Obergeschoss gibt es einen langen Saal, der besonders voll ist. 260 Mädchen und Frauen sitzen dort an Steppmaschinen, 13 Stunden jeden Tag. Sie wiegen Schießpulver, steppen Säckchen und befüllen sie als Treibladungen für Minenwerfer.

An jenem Freitag sehen die Nachbarn, wie Flammen aus der Kriegsfabrik schlagen. Zeugen berichten von einem dumpfen Donner, der das Westend erschütterte. Es ist nachmittags kurz vor halb fünf. Im Erdgeschoss soll das Feuer ausgebrochen sein. Die Frauen im ersten Obergeschoss sitzen in der Falle. Sie schreien durch die vergitterten Fenster, die Notausgänge sind mit Flüchtenden gefüllt. Die meisten aus diesem Saal verbrennen bei lebendigem Leib. Nur zwölf schaffen es, in die oberen Etagen zu rennen und aus den Fenstern zu springen. Überlebende sagen aus, die Flammen hätten sofort nach dem ersten „Feuer“-Schrei das gesamte Haupthaus erfasst, ebenso die Nebengebäude. Alle Notausgänge waren zum Zeitpunkt der Explosion unverschlossen.

Erst zwei Tage zuvor hatte es in der Fabrik eine Übung gegeben, die das Kriegsamt in Leipzig angesetzt hatte. Dabei funktionierte alles vortrefflich, wie es heißt: Alle Säle seien nach 14 Sekunden evakuiert gewesen. Doch am 19. Juli ist es anders.

Anwohner und Soldaten aus der benachbarten Kaserne versuchen zu helfen. 177 Opfer können sie bergen. Sie haben schwere Verbrennungen, liegen schreiend und stöhnend auf Pferdefuhrwerken, die sie ins Notlazarett und ins Krankenhaus bringen. Doch die meisten sterben kurz darauf. Am Ende gibt es 301 Tote. Jüngstes Opfer ist der achtjährige Sohn des Hausmeisters. Die Tageszeitung, die voll ist mit Todesanzeigen, schreibt von dramatischen Szenen in den Lazaretten.

Das Durchschnittsalter der Toten beträgt 23 Jahre, fast alle Opfer waren Mädchen und Frauen. Weil viele Männer im Krieg waren, war die Kartuschieranstalt ein Frauenbetrieb. Ab 14 Jahren durften Mädchen dort arbeiten. Die Stellen waren begehrt: Sie bedeuteten Lebensunterhalt für die Familien.

Werksdirektor wird freigesprochen

Fünf Tage nach dem Brand kommen Mitarbeiter des Kriegsministeriums nach Plauen, begutachten den Unglücksort und lassen nach Ursachen forschen. Doch die werden nie geklärt. Sabotage schließen die Ermittler aus. Fahrlässigkeit oder Selbstentzündung können nicht nachgewiesen werden. Nach einem Gutachten zur Schuldfeststellung wäre es möglich gewesen, dass die Nähnadeln Funken verursacht haben. Die aktuellste Hypothese ist, dass die Kunstseidensäckchen aus gefährlichem Material waren. Das könnte mit dem Schwarzpulver chemisch reagiert haben, so der vogtländische Historiker Gerd Naumann. Er forscht noch heute zur Ursache des Feuers. Unterlagen der AEG und der Staatsanwaltschaft existieren keine mehr.

Die AEG besaß im Ersten Weltkrieg eine zweite Pulverfabrik im brandenburgischen Hennigsdorf, die ebenfalls explodierte. Dort gab es acht Tote. Für das verheerende Unglück in Plauen wird nie jemand bestraft. Werksdirektor Sprenger kommt vor Gericht, wird aber freigesprochen. Ihm kann keine Schuld nachgewiesen werden. Noch bis 1946 arbeitet er bei der AEG als Führungskraft.

Die Schäden am Fabrikgebäude sind so gering, dass die AEG schon vier Wochen nach dem Brand die Produktion wieder aufnehmen will. Das Dachgeschoss und die Büroräume im Untergeschoss sind unbeschädigt. Auch einige der doppelt verglasten Fenster haben die Hitze des Brandes überstanden. Der damalige Oberbürgermeister untersagt der AEG nach dem Unglück jedoch, weiter in Plauen Munition herzustellen.

Fünf Tage nach dem Drama findet auf dem Hauptfriedhof ein Massenbegräbnis statt. 223 Brandopfer finden dort ihre letzte Ruhe. Liebevoll fassen die Hinterbliebenen diesen Ort mit Namensplatten ein.

Fast 100 Jahre später schrubben Schüler das Moos von diesen Platten, und die Stadt sammelt Spenden, um die Gedenkstätte zu restaurieren. Das Feuer in der Kriegsfabrik gehört zu den größten Katastrophen der Stadtgeschichte.

(fp)