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Meißner Fummel hat türkische Wurzeln

Ein Meißner Wissenschaftler hat die Herkunft des sagenhaften Gebäcks erforscht. Das Ergebnis überrascht.

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© Claudia Hübschmann

Meißen. Die Geschichte dürfte jeder Meißen-Besucher kennen: Die zerbrechliche Fummel wurde in der Stadt entwickelt, um mit ihrer Hilfe einen kurfürstlichen Boten zu disziplinieren und vom Einkehren und Techtelmechteln abzuhalten. Dem Kulturwissenschaftler Dr. phil. Hans Sonntag wollten die Ungereimtheiten dieser Sage nie so richtig behagen. Deshalb hat er nachgeforscht und wurde fündig.

Nicht weit entfernt von dem Traditionsbetrieb wird ein ganz ähnliches Gebäck mit der Bezeichnung Bhatura im indischen Restaurant Agra zubereitet.  Kulturwissenschaftler Hans Sonntag stellt jetzt die These auf, dass die Ähnlichkeit kein Zufall ist.
Nicht weit entfernt von dem Traditionsbetrieb wird ein ganz ähnliches Gebäck mit der Bezeichnung Bhatura im indischen Restaurant Agra zubereitet. Kulturwissenschaftler Hans Sonntag stellt jetzt die These auf, dass die Ähnlichkeit kein Zufall ist. © Claudia Hübschmann

Sie rütteln an der Geschichte der Meißener Fummel als Kontroll-Instrument für einen trinkfreudigen und liebeshungrigen Kurier des sächsischen Kurfürsten. Warum?

Ein Einzelreiter zu Pferde konnte nach meiner Einschätzung kaum eine Fummel in der Hand transportieren, denn die Zügel mussten doch sicherlich mit beiden Händen gehalten werden, um das Pferd zu führen. Und wie sollte die Fummel bei Regen, Schnee und Sturm aussehen, wenn Ross und Reiter in Dresden oder in Meißen ankamen? Vielleicht sollte man sich doch von der Story des Gebäckzerbrechens während des Transports beziehungsweise vom Liebesverhältnis des Kuriers in Gauernitz trennen und eher gesicherte historische Fakten zur Kenntnis nehmen.

Und was sind die historischen Fakten?

Da wäre mit an erster Stelle ein Artikel des Meißner Heimatforschers Wilhelm Loose zu nennen. Er beschreibt Ende des 19. Jahrhunderts einen über 100 Jahre zurückliegenden Besuch der sächsischen Prinzessin Maria Josepha in Meißen am 14. Januar 1747. Sie war unterwegs nach Frankreich, um dort den erstgeborenen Sohn König Ludwig XV. zu heiraten. In Meißen spendete der Rat Loose zufolge „den gewöhnlichen Ehrenwein an rothen und blanken Landwein nebst einen hiesigen gewöhnlichen Gebacken vulgo eine Fommel genannt“, wobei die lateinische Bezeichnung „vulgo“ auf ein gemeinhin und allenthalben bekanntes hiesiges Backwerk verweist. Dass man am sächsischen Hof kein perfektes, sondern eher ein sächsisch geprägtes und wohl auch fehlerhaftes Französisch sprach, ist in der Fachliteratur hinlänglich bekannt. So lässt sich erklären, dass sich die Bezeichnung Fummel sicherlich vom französischen „fumée“ ableitet, ein Wort, das folgende Bedeutungen umfasst: Rauch, Dampf, Qualm – auch im Sinne von blauer Dunst, das heißt Blendwerk, fauler Zauber, Täuschung und Wind. Damit wird die Fummel bestens charakterisiert, denn sie wird durch Hefe, warmen Dampf und durch das Ausbacken des Teiges zu einem ballonartigen, geschlossenen Backwerk ohne Inhalt.

Das heißt Sie sehen in der Fummel ein stark symbolisch beladenes Gebäck?

Ja, als leere Windblase wird sie zu einem Symbol der Illusion, das heißt, zur Vorstellung von einer Wirklichkeit, die nur auf eigenen Wünschen und täuschenden Ansichten beruht. Und dieser Illusionscharakter hängt direkt mit der damals herrschende Scheu und der Angst vor dem Nichts, vor der Leere zusammen. Zerbricht man nämlich die Fummel, erlebt man nur das Nichts, die Leere, die jedoch durch den Zucker auf der Oberfläche des Gebäcks etwas versüßt wird. Lässt man die Fummel jedoch ganz, bleiben vielleicht gewisse Illusionen für immer erhalten.

Die sprachliche Ableitung sagt noch nichts über die regionale Herkunft der Fummel aus. Welche These vertreten Sie hier?

Seine ursprünglichen Wurzeln hat das Fummel-Gebäck offenbar in der orientalischen Küche, vor allem in der Türkei und Syrien, mit Ausbreitungen bis Indien. Denken Sie nur an das ballonartige Bhatura-Brot, das man heute in den indischen Restaurants in Meißen essen kann. Auch in der türkischen Küche gibt es ein nahezu identisches, aufgeblähtes Brot, im Internet als frittiertes Fladenbrot angezeigt. Zum Wechsel vom „o“ zum „u“ im Wort ist anzumerken, dass das Pumpernickel im Jahre 1722 laut einer Publikation aus Halle damals „Bompournickel“ genannt wurde.

Und wie kam die Fummel aus dem Orient nach Sachsen?

Das hängt mit der hohen Wertschätzung der orientalischen und türkischen Kultur sowie Lebensweise am sächsischen Hof im 18. Jahrhundert zusammen. Noch deutlicher als im 17. Jahrhundert trat die Bewunderung orientalischer Pracht an die Stelle des Kampfes gegen die einstigen Gegner. Zwar ließ sich August der Starke, der in den Jahren 1695 und 1696 den Oberbefehl über die kaiserlichen Truppen in Ungarn innehatte, auch als Türkenbezwinger feiern, aber seine Bewunderung der scheinbar uneingeschränkten Macht des Sultans und dessen Prachtentfaltung trat deutlich in den Vordergrund.

Auf welche Weise hat sich diese Vorliebe geäußert?

Unter seiner Regierung erlebten orientalische Festaufzüge und andere Inszenierungen ihre Blütezeit in Sachsen. Er inszenierte sich als Sultan begleitet von prunkvoll aufgezäumten, orientalischen Handpferden, in Kaftane gekleideten Dienern wie Kammertürken und -mohren, einem Janitscharencorps mit Musikinstrumenten, das aber auch als repräsentative Garde bei Festivitäten und zur Bewachung der kostbaren Lustschlösser diente. All dies waren Elemente, derer sich August der Starke bediente, um so seinen herrschaftlichen Rang, aber auch seine Rolle in den Türkenkriegen zu unterstreichen.

Das Symbol des Halbmondes wurde ebenfalls ganz unverfänglich genutzt …

Ja, anlässlich des Türkischen Festes am 17. September 1719 in Dresden beim Empfang des verheirateten Sohnes Augusts des Starken mit Maria Josepha von Österreich, wurde die Dachbekrönung des Türkischen Palais mit einem Halbmond verziert und die Festtafel der Form nach als Halbmond eingerichtet. Im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm heißt es zur Fummel: „… in Meiszen, namentlich der Stadt, eine art backwerk in gestalt eines halben Mondes …“. Die Fummel ist in diesem Kontext mit großer Wahrscheinlichkeit eine sächsische Version des türkischen, ballonartigen Fladenbrotes, verbunden mit entsprechenden Sinngebungen und praktischen Verwendungen bei Hochzeiten, Geburtstagen, auf Jahrmärkten, in Wirtschaften, bei Jagden und anderen Gelegenheiten.

Ist die Erforschung der Geschichte der Fummel damit für Sie abgeschlossen?

Nein. Ratsam wäre es aus meiner Sicht, wenn das Stadtarchiv oder das Stadtmuseum Meißen Recherchen zur Geschichte der Fummel beim Völkerkundemuseum in Dresden und beim Hauptstaatsarchiv Dresden anstrebt, um die konkreten, exakten Verwendungen der Fummel, ihren kulturell-ästhetischen Bedeutungscharakter und ihre historische Herkunft und Verwandlungen zu erforschen. Es müssten doch verbindliche Anordnungen vom Dresdener Hof zur Verwendung der Fummel und letztlich auch Rechnungen über die Herstellungskosten seitens der Bäcker in Meißen existieren und somit zu finden sein.

Das Gespräch führte Peter Anderson.