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Die letzten Zeugen

Mit SZ-Lesern auf Spurensuche in der Vergangenheit: eine SZ-Serie zum Kriegsende in Sachsen vor 70 Jahren.

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© dpa pa

Von Oliver Reinhard

April 1945. Der Zweite Weltkrieg ist längst entschieden. Aber er ist immer noch nicht vorbei. Obwohl inzwischen kaum jemand mehr daran zweifelt, auf keiner Seite, dass Deutschland ihn verlieren wird, geht das Kämpfen, das Töten und Sterben weiter. Unzählige Deutsche, Soldaten und Zivilisten, wollen nicht aufgeben. Viele aus Angst vor der „Rache der Sieger“ für die ungeheuerlichen Verbrechen in den einst eroberten Ländern. Andere, weil sie die nationalsozialistische Ideologie so tief in sich aufgenommen haben, dass sie sich ein „Leben danach“ weder vorstellen können noch wollen. Wieder andere, weil sie fürchten, von eigenen Leuten als Verräter umgebracht zu werden, sobald sie eine weiße Fahne hissen.

So unterschiedlich sie auch sind; in einem gleichen sich die Aufzeichnungen vieler russischer, polnischer, amerikanischer, britischer und französischer Soldaten aus diesen Tagen: Sie können nicht begreifen, dass so viele Deutsche, die sichere Niederlage vor Augen, trotzdem noch bis zuletzt weiterkämpfen und ihre Leben sowie unzählige Leben ihrer Gegner sinnlos verschwenden.

Doch dieses deutsche Nicht-Aufgeben-Wollen und die deutsche Sehnsucht, das Grauen möge endlich ein Ende finden; es liegt kein Widerspruch darin. Furcht, Verzweiflung, Verblendung, Fanatismus; dieses Miteinander vermag monströse Kräfte freizusetzen. So zeigt der Krieg noch einmal, in seinen letzten Zügen, in welchem Maße er das Schrecklichste im Menschen zum Vorschein bringen kann. Er zeigt es in allen tödlichen Facetten. Auch in Sachsen, und gerade in Sachsen.

Hier, östlich von Bautzen, findet eine der letzten großen, vorübergehend sogar erfolgreichen, aber gänzlich aussichtslosen Offensiven der Wehrmacht statt. Hier werden zahllose Häftlinge geräumter Konzentrationslager auf Todesmärsche getrieben. Hier geschehen furchtbare Kriegsverbrechen, auf allen Seiten. Hier begehen Frauen und Mädchen massenhaft Selbstmord aus Angst vor Vergewaltigungen. Und hier kommt es zum ersten Zusammentreffen von sowjetischen und amerikanischen Truppen, als Ost- und Westfront bei Torgau zu einer verschmelzen.

In jenen Tagen vor 70 Jahren kehrte der Zweite Weltkrieg endgültig dorthin zurück, wo er begonnen worden war. Zum Gedenken an diese Zeit starten wir ab heute in der SZ eine umfangreiche Serie über „Das Kriegsende in Sachsen 1945“. Ein Projekt, das ohne die Hilfe unserer Leser nicht möglich wäre. Hunderte sind unserem Aufruf gefolgt. Sie haben uns ihre persönlichen Erlebnisse von damals geschildert oder Gegenstände gezeigt beziehungsweise überlassen, mit denen sie Erinnerungen an eine Zeit verbinden, die für viele die schrecklichste ihres Lebens geblieben ist.

Manche dieser Dinge erzählen Geschichten, die für den Tod und das Weiterleben zugleich stehen. Wie die Tasche aus Stroh, die ein Rotarmist aus Verehrung für eine Deutsche geflochten hat. Wie die rote Fahne, die ein Dresdner Kommunist beim Einmarsch der Sowjets zur Begrüßung geschwenkt hat. Wie die Tragfläche eines abgeschossenen US-Bombers, die einem Bauern jahrzehntelang als Dach für seinen Schuppen diente. Für manche Leser empfinden wir ganz besonders großen Respekt. Etwa für jene Frau, die mit uns trotz der Schmerzhaftigkeit ihrer Erinnerung über das schlimmste Ereignis ihres Lebens sprach; ihre Vergewaltigung. Und für jene Dame, die als kleines Mädchen den Massenselbstmord ihrer ganzen Familie als Einzige überlebt hat. Nicht zu vergessen die russischen Veteranen, mit denen wir das ehemalige Gefangenenlager Zeithain nahe Riesa besuchten: Obwohl dort Tausende ihrer Kameraden und Landsleute starben, ermordet durch unmenschliche Haftbedingungen, setzen sie sich für Versöhnung ein, nicht nur zwischen Russen und Deutschen.

Aus einem weiteren Grund ist „Das Kriegsende 1945 in Sachsen“ keine gewöhnliche Serie der Sächsischen Zeitung. Denn wir stehen an einem Wendepunkt unserer Erinnerungskultur. Noch gibt es im Wortsinn eine lebendige Erinnerung an Nationalsozialismus, Krieg, Holocaust. Noch sind Menschen unter uns, die jene Zeit persönlich erfahren haben. Noch sind sie lebende Brücken zwischen ihrer Generation und den Nachgeborenen. Doch schon in zehn Jahren, zum 80. Jahrestag des Kriegsendes, werden die meisten von ihnen nicht mehr da und ihre Erinnerungen Geschichte geworden sein.

So wird diese Serie die letzte über den Zweiten Weltkrieg bleiben, die gemeinsam mit den Zeitzeugen der Erlebnisgeneration entstand. Umso dankbarer sind wir, dass wir ihnen zuhören durften und dürfen, solange sie noch erzählen können.