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Die bombensichere Jungfrau

Die Sixtinische Madonna wurde vor 75 Jahren im Krieg nahe Pirna versteckt. Noch heute ranken Legenden um die Aktion.

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© Marko Förster

Von Jörg Stock

Der Trupp plappernder Schulkinder trollt sich. Die Madonna hat wieder ihre Ruhe. Doch plötzlich jaulen Sirenen. Kanonendonner, Gewehrsalven. Das Bild welkt, kriegt braune Flecken. Feuer bricht durch die Leinwand, verschlingt die lümmelnden Engel, den Papst Sixtus, die Heilige Barbarara, und dann die Gottesmutter selbst samt Heiland. Ein Wimpernschlag, und der Rahmen ist leer. Nur Worte bleiben stehen: „Verbrannt. Verloren.“

Katarina Bartko (89) pflegt in ihrer Dohmaer Heimatstube das Andenken an die versteckte Madonna. Foto: Norbert Millauer
Katarina Bartko (89) pflegt in ihrer Dohmaer Heimatstube das Andenken an die versteckte Madonna. Foto: Norbert Millauer © Norbert Millauer

Brennen muss die Sixtinische Madonna auf Schloss Weesenstein Tag für Tag. „Zum Glück entsteht sie immer wieder neu“, sagt Birgit Finger, die Kustodin. Sie hat die Sonderschau „Bombensicher!“ über Weesenstein als Kunstversteck im Zweiten Weltkrieg mit erdacht. Dass gleich zu Anfang Raffaels Meisterwerk auf einem Großbildschirm verraucht, ist, zugegeben, ein sehr starkes Bild, sagt sie. Viele hätten keine Erfahrung mehr mit dem Krieg. Der symbolische Brand soll Emotionen wecken, soll zeigen, wie wichtig es damals war, die Kunstschätze in Sicherheit zu bringen.

Die Sixtina, gemalt in Italien vor über 500 Jahren, nach Sachsen geholt 1754 von König August III., ist das Symbol für die Evakuierung der Dresdner Museen zur Hitlerzeit. Deshalb haben die Weesensteiner sie zur Reklamefigur für ihre Schau erwählt. Der Weesenstein gehörte zu den wichtigsten von mehr als einem Dutzend Fluchtpunkten für Kunstgüter im heutigen Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge. Ab 1942 begann die Einlagerung von Gemälden, Porzellantieren, Wunderwerken der Mechanik und kostbaren Archivalien. Das Bild der Bilder aber kam nicht ins Schloss, sondern in eine Höhle aus Sandstein.

In der alten Schule von Dohma stellt Katarina Bartko, 89, ehemals Lehrerin, jetzt Chefin der Heimatsammlung, eine Plastekiste auf den Tisch. Darin liegen die Exponate zum Thema Madonna. Keine zwei Kilometer Luftlinie sind es von hier bis zum alten Eisenbahntunnel Großcotta, wo das Bild knapp anderthalb Jahre versteckt war. Katarina Bartko hat dazu gesammelt, was sie kriegen konnte, Zeitungsartikel, Fotos, Pläne. Eigentlich findet sie die Geschichte ja ein wenig abgedroschen. Das alles ist über 70 Jahre her. Dann schaut sie auf die Madonnenkopie in ihrer Kiste. Frau Bartko ist nie religiös gewesen. Doch diese Heilige bewegt ihr Herz. „Erstaunenswert, was Menschen erschaffen haben.“

Katarina Bartko stammt aus der Dohmaer Schmiede. Die Familie war kunstsinnig. Noch vor dem Krieg, als kleines Mädchen, wurde sie zur echten Madonna in die Dresdner Gemäldegalerie mitgenommen. Am 11. September 1939, Hitler hatte Polen überfallen, begann das große Verstecken. Die Madonna verschwand in einer maßgeschneiderten und doppelt verschlossenen Holzkiste, erst unterm Zwinger, dann, bis zum Ende der Kriegszeit, auf der Meißner Albrechtsburg. So hatte es jedenfalls Galeriedirektor Hans Posse geplant.

Doch Posse starb 1942. An seiner statt bekam Hermann Voss, Hitlers Sonderbeauftragter für das „Führermuseum Linz“, die Leitung der Dresdner Galerie. Voss inspizierte die Auslagerungsorte und schlug gleich Alarm beim Reichsstatthalter Martin Mutschmann. Die Unterbringung der Bilder, vor allem der Sixtina, des wertvollsten Gemäldes der Welt, mache ihm größte Sorge. Die Burg sei zu wenig bombensicher und nicht geheim genug. Ein neuer Bergungsort wurde gesucht und gefunden: der Bergungsort „T“ – T wie Tunnel.

Thomas Rudert, Historiker bei den Dresdner Kunstsammlungen, wähnt hinter Vossens Aktionismus ein Stück Geltungsbedürfnis. Jedoch nährten die zunehmenden Bombenangriffe auf das Reich tatsächlich Zweifel an der Sicherheit der Albrechtsburg. Auch Weesenstein mit seinen bis zu vier Meter dicken Mauern bot nach Ruderts Ansicht keinen absoluten Schutz. Ein konzentrierter Angriff hätte die Kunstwerke dort gefährdet. „Der Tunnel war unter den damaligen Bedingungen ideal.“

Hunderte Bilder bis heute vermisst

Der Eisenbahntunnel, rund 260 Meter lang, verband seit 1884 die Steinbrüche des Lohmgrunds mit dem Bahnhof Großcotta auf der Dohmaer Seite. Als die Dresdner Experten im Mai 1943 den Lohmgrund nach einem Versteck für die Madonna absuchten, erzählte ihnen ihr Begleiter, der Baumeister Reinhold Fleck, spontan vom Tunnel. Letztlich war es also ein Pirnaer Steinbruchbesitzer, der die Idee hatte, das weltberühmte Bild auf Bahnschienen zu verbergen. Den Tunnel decken bis zu 20 Meter Erde und gewachsener Fels. Er ist unerreichbar für jedwedes Geschoss. Am 15. Dezember 1943 zog die Sixtina ein. Zusammen mit weiteren Spitzenbildern der Dresdner Galerie deponierte man sie in einem extra isolierten und klimatisierten Güterwagen. Zum Kriegsende hin musste der Bergungsort „T“ immer mehr Bilder aufnehmen, sodass zusätzlich eine Baracke gebaut wurde, technisch ebenso ausgerüstet wie der Waggon. Die Polizisten am Tunnel erhielten genaue Instruktionen zur Bedienung von Heizung und Lüftung.

Die Leute ringsherum wussten, dass etwas Geheimes im Tunnel vorging. Nur was, das wussten sie nicht. Es kümmerte auch kaum einen, sagt Katarina Bartko. Man hatte andere Sorgen. Sorgen um die Männer an der Front und um das eigene Überleben.

Am 8. Mai 1945 zogen Sowjetsoldaten in Dohma ein. Den Tunnel fanden sie nicht. Doch hatten die Kämpfe den Strom und damit die Klimaanlage ausfallen lassen. Nässe bedrohte den Bilderschatz, der nunmehr 380 Werke umfasste. Zudem war die Wache getürmt. Restaurator Alfred Unger, der, in Dresden ausgebombt, jetzt im Steinbruch hauste, und ein Kollege waren die letzten Hüter der immensen Reichtümer.

Am Wiederauftauchen der Madonna aus dem Tunnel scheiden sich die Geister. Für die einen ist es eine Rettung, für die anderen ein Raub. Jedenfalls ist es die Stunde des Leonid Rabinowitsch vom 164. Bataillon der Roten Armee. Die Einheit fahndet nach Kunstschätzen, um sie als Ausgleich für eigene Verluste in die Sowjetunion zu bringen. Obwohl sich mehrere Gruppen hoher Sowjetoffiziere auf Weesenstein, der Zentrale der Auslagerungsaktion, über den Tunnel im Lohmgrund informieren, ist es der kleine Unterleutnant Rabinowitsch, der wohl als Erster die Hand an Madonnas Kiste legt, ja vielleicht an das Bild selbst.

Er war vor dem Krieg Chef-Bühnenmaler an der Kiewer Oper gewesen. Im eroberten Dresden greift er sich eine Mitarbeiterin der Skulpturensammlung und lässt sich von ihr am 14. Mai in den Lohmgrund führen. Von all den Schätzen wird an diesem Tag nur die Kiste mit der Madonna verladen und ins Quartier von Rabinowitschs Bataillon gebracht. Dort steht die Heilige zwischen leeren Schampusflaschen, bis sie am 22. Mai ins zentrale Trophäendepot, das Schloss Pillnitz, gebracht wird.

Ende Juli 1945 geht die Sixtina zusammen mit rund 600 weiteren Gemälden auf die Reise nach Moskau. Was bis zur Rückgabe an die DDR 1955 mit ihr passierte, ist weitgehend unbekannt. Offiziell wurde das Bild von sowjetischen Fachleuten restauriert. Sammlungshistoriker Rudert hält das für einen Teil des Rettungsmythos, den die DDR um das Madonnenbild wob. Laut Aktenlage seien die Gemälde aus dem Tunnel bis zum Abtransport in gutem Zustand gewesen. Schäden dürften, wenn überhaupt, erst später entstanden sein. Bis heute gelten rund 500 Dresdner Bilder als vermisst.

Bombensicher! Kunstversteck Weesenstein 1945. Geöffnet bis 7. Oktober tgl. 10-18 Uhr auf Schloss Weesenstein.