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„Die Bäbe war wohl ganz hart?“

Auf einem Geisinger Dachboden entdeckt Jan Rieck einen Schatz, der nicht nur für seine eigene Familie wertvoll ist.

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© ronaldbonss.com

Von Karin Großmann

Obenauf liegt ein Brief, der vor über hundert Jahren geschrieben wurde. Der Umschlag wurde noch nie geöffnet. Der Pappkarton steht in einer Ecke des Dachbodens. Sommer und Winter gehen darüber hin, Krieg und Frieden, die Generationen wechseln. Das Haus bleibt in der Familie. Als die Großmutter stirbt, zieht Jan Rieck mit seiner Frau ein. Da ist dieser Karton. Rieck schleicht drum herum. Was geht ihn das an? Geht ihn das etwas an? Er nimmt ein Papier nach dem anderen heraus, Blätter wie aus einem Notizbuch, manche liniert, zwei verschiedene Schriften. Er beginnt zu lesen. Mit einem Mal ahnt er, was für einen Schatz er in den Händen hält.

Richard Behr in Nordfrankreich im Schützengraben.
Richard Behr in Nordfrankreich im Schützengraben. © privat
Hedwig Behr mit den Kindern Elfriede und Alfred vor dem Haus der Familie in Geising. Das Foto schickte sie ihrem Mann in den Ersten Weltkrieg.
Hedwig Behr mit den Kindern Elfriede und Alfred vor dem Haus der Familie in Geising. Das Foto schickte sie ihrem Mann in den Ersten Weltkrieg.

Man kann sich Hedwig und Richard Behr als ein glückliches Paar vorstellen. Er stammt aus Bärenstein, sie aus Altenberg. Vielleicht lernen sie sich auf der Kirmes kennen. Sie heiraten und bekommen zwei Kinder, das Elfriedele und das Alfredle. Behr arbeitet in der Firma des Vaters. Sie verladen Baustoffe und Kohlen, die mit dem Zug nach Geising kommen. Die Müglitztalbahn bringt den Fortschritt. Noch ist Geising die Endstation. Im zeitigen Frühjahr 1915 geht Richard Behr zum Bahnhof. Seine Frau wird ihn begleiten. Sie weiß, was es bedeutet. Die Euphorie des ersten Kriegsjahres ist verflogen. In Freiberg wird Richard Behr auf den Einsatz vorbereitet. Dort ist das Königlich Sächsische 1. Jägerbataillon Nr. 12 stationiert. Zwei Wochen Krieg üben müssen genügen.

Jan Rieck sagt, dass er mit sich gerungen hat. Er hat sich gefragt, mit welchem Recht er in das Leben anderer Menschen eindringt. Ob er lesen darf, was sie einander anvertrauten. „Heute wird das Privateste in die Öffentlichkeit posaunt, aber das war damals doch eine andere Zeit. Da hat man Skrupel.“ Rieck ist 41, schlank, kurzhaarig, akkurat, er arbeitet im kaufmännischen Bereich einer Glashütter Uhrenfirma. Sein Interesse an der Geschichte gilt bisher vor allem dem Mittelalter. Immerhin kann er die alte deutsche Schrift lesen, die spitzwinklige Kurrent. Der Pappkarton ist randvoll gefüllt mit Briefen. Fleckiges und vergilbtes Papier. Amtliche Stempel. Rieck fragt Experten im Staatsarchiv, wie man solche Stapel abträgt. Sie raten: von oben nach unten. Chronologie ist hilfreich.

Das Jägerbataillon aus Sachsen wird in den Norden von Frankreich geschickt. In einem Erdloch bezieht Richard Behr seinen Posten. Später werden die Unterstände betoniert. Mit Beton kennt ein Baustoffhändler sich aus. Nach viereinhalb Wochen Front hat er einige Tage Pause: entlausen, baden, sogar Kino. Er schreibt seiner Hedwig davon. Sie schreibt ihm, dass eine Nachbarin in Geising erwischt wurde, die mit einem Kriegsgefangenen ... ja was? Poussierte. Es war ein Franzose. Empörung im Ort. Butter könne sie erst schicken, wenn Frau Walther gebuttert hat. „Hättest du Appetit zu Blutwurst?“, fragt Hedwig den Soldaten Richard. Jäger ist er, unterster Dienstgrad. Dunkelgrüne Uniform, rote Paspel, ein Jagdhorn auf den Schulterklappen. Beinahe täglich geht ein Brief hin und ein Brief zurück. Die Post zwischen Geising und Berry-au-Bac dauert drei bis vier Tage.

Selten ist ein Leben aus dieser Zeit so vollständig dokumentiert. Jan Rieck hält rund 500 Briefe seiner Urgroßeltern in den Händen. Es ist wie ein Gespräch, ein Gespräch über anderthalb Jahre, vom März 1915 bis September 1916. Ein einziges Mal kommt der Soldat Richard Behr auf Heimaturlaub. Briefe schickt er gebündelt zurück. Sie könnten an der Front verloren gehen. Im Pappkarton liegen sie durcheinander. Jan Rieck gräbt sich immer tiefer hinein, Abend für Abend, Woche für Woche. „Man braucht dazu eine sehr verständnisvolle Ehefrau.“ Manchmal endet ein Blatt mitten im Satz. Es dauert, bis Rieck den Anschluss findet. „Das ist richtige Detektivarbeit.“ Über manchem Wort grübelt er eine halbe Ewigkeit, bis es entziffert ist. Andere Wörter erschließen sich aus dem Zusammenhang. Er fragt sich, wie sie mitten im Sommer ohne Kühltasche Butter durch die Gegend schicken konnten. Verständnis füreinander scheint in der Familie zu liegen.

Hedwig Behr macht sich Sorgen: „Die Bäbe war wohl ganz hart?“ Der Transport funktioniert nicht immer problemlos. Anfangs schickt sie noch Schinken und Mettwurst in den Schützengraben. Je länger der Krieg dauert, desto mehr fehlt es auch zu Hause am Essen. Gebacken wird nur noch heimlich. Wenn sie mal klagt, nimmt sie das sofort wieder zurück. „Doch ich will nicht vergessen, dass ich eine deutsche Frau bin, und diese soll und muss tapfer sein.“ Sie kündigt ihrem Mann an, Unterhosen zu schicken. Und fast im selben Atemzug: „Jetzt geht es mit Bulgarien und Serbien los.“ Richard Behr erzählt selten von dem, was er an der Front erlebt. Die Post wird mitgelesen. „Man muss sich sehr in Acht nehmen mit dem Schreiben.“ Kämpfe deutet er nur an: „Es geht tüchtig drüber her“ oder: „Die Schwenker haben die Hosen voll gehabt.“ Manchmal beschreibt er eine Ansichtskarte. Mit der Kathedrale von Reims hält die Geisinger Kirche nicht mit.

Der Schwenker könnte eine Anspielung auf den Cognac und also auf den französischen Feind sein, vermutet Jan Rieck. Er liest von Remarque „Im Westen nichts Neues“ und von Ernst Jünger „In Stahlgewittern“, um den Ersten Weltkrieg besser zu verstehen, er forscht im Militärhistorischen Museum und in der Landesbibliothek Dresden. „Überall bin ich auf offene Türen gestoßen.“ Anhand von Karten und Bataillonschroniken kann er die Kämpfe nachvollziehen. Die 12. Jäger sind schweren Angriffen ausgesetzt. „Man muss sich das vorstellen“, sagt Jan Rieck nachdenklich. „Die Männer vom Dorf müssen die Artillerie als fürchterlichen Höllenlärm empfunden haben, sie kannten Pferdefuhrwerke und die Bahn, aber nicht diese Zerstörungskraft. Sie hatten noch nicht mal Stahlhelme zum Schutz, sondern nur Lederkappen.“ Mitunter liegen die deutschen Soldaten und die französischen Soldaten nur im Abstand von fünfzig Metern einander gegenüber. „Wie anonym ist das Kriegführen seitdem geworden“, sagt Rieck. „Als wären auf der anderen Seite keine Menschen.“ Als Jugendlicher engagierte er sich bei der Kriegsgräberfürsorge im Ausland. Er würde sich nicht als Pazifisten bezeichnen, sagt er. „Aber Krieg sollte das aller-aller-allerletzte Mittel sein.“ Der Brief, der obenauf liegt, bleibt lange ungeöffnet.

Richard Behr hat die Nase voll. „Alle Tage Regen“, schreibt er. „So ein Schmant.“ Ein französischer Korporal wechselt am helllichten Tag die Seiten. „Er hat es tüchtig satt gehabt“, erklärt Richard Behr seiner Frau Hedwig. „Wenn es doch mal zu einem Waffenstillstand käme!“ Sie antwortet, dass sie sich dann sofort in den Zug setzen würde und zu ihm führe. Dass sie ihn mal recht lieb drücken würde. „Mein lieber, guter Richard.“ „Meine liebe, herzige Hedwig.“ Kosenamen gibt es nicht, kein Bärchen, kein Purzelchen. Einer knüpft an das an, was der andere schreibt. Richard: Er sei dabei gewesen, als einer aus der Geisinger Nachbarschaft fiel. Hedwig: „Man macht sich die schrecklichsten Gedanken daheim.“

Was sonst noch passiert? Beim Karl in Altenberg ist ein kleines Mädchen angekommen. Schwester Meta hat sich verlobt. Und dann dieses Unglück: Zwischen Bärenstein und Glashütte ist ein Zug entgleist und in die Müglitz gestürzt!

Jan Rieck sucht Kontakt zum Freundeskreis der Müglitztalbahn. Tatsächlich findet sich ein zeitgenössischer Bericht. In schöner Ausführlichkeit ist die Rede von einem Schienenbruch. „So fügt sich ein Puzzleteil zum anderen.“ Rieck versucht auch, etwas über den Karl und die Meta herauszufinden und über den Kriegstoten aus der Nachbarschaft. Bei der Suche in Kirchenbüchern entdeckt er, dass die Urgroßmutter Hedwig einen Bruder hatte. Er starb schon als Kind. In der Familie wusste niemand davon. „Es ist, als würde man eine Zeitkapsel öffnen, und alles quillt und quillt draus hervor.“ Jan Rieck muss sich selber zurückpfeifen. Immer wieder gerät er ins Staunen. Wie viele Gaststätten es damals in Geising gab!

Hedwig Behr hat anderes zu tun. Sie kümmert sich um die zwei Kinder, um den Haushalt, die Wäsche. Die Soldatenfrauen erhalten eine staatliche Zuwendung, weil der Ernährer fehlt. Frau Behr aber wird die Leistung gestrichen. Begründung: Sie hilft in der Firma des Schwiegervaters und dürfte ja wohl was verdienen. Sie schreibt ihrem Mann ganz empört, dass sie sich beim Bürgermeister beschwert hat: Soll sie vielleicht den ganzen Tag spazieren gehen!? Bis in den Abend hat sie Kohlen entladen. Förderbänder gibt es noch nicht.

Jan Rieck streicht über das linierte Papier. Er stellt sich vor, wie die Urgroßmutter am Küchentisch sitzt und schreibt, erschöpft und müde vom Tag. „Den Krieg ausbaden müssen immer die kleinen Leute. Wie froh und dankbar kann man sein, dass man das nicht erlebt.“ Was er in den Briefen findet, ist vor allem eine unendliche Sehnsucht nach Normalität. Keine Durchhalteparolen, nichts Heldisches wie auf den Feldpostmappen: „Deutsche Art sei schlicht und echt, kämpft für Wahrheit, Licht und Recht.“ Am Rand des Pappkartons vom Dachboden steht der Name einer Waschmittelfirma: Sil. Jan Rieck vervollständigt die häusliche Technik. Jeder Brief wird gescannt, in eine heute lesbare Fassung übersetzt, abgetippt und chronologisch in graue Archivordner geheftet. „Wenn man so etwas macht, dann richtig“, sagt Jan Rieck. Es ist die Arbeit von 16 Monaten. Er lässt die Briefe in einer Leipziger Firma drucken und binden, mit gelbem Leinen und klassischer Fadenheftung. Zehn Exemplare, nur für die Familie gedacht. Auf dem Einband steht: Die innigsten Grüße im Voraus!

„Die innigsten Grüße im Voraus!“ So ungewöhnlich beginnen viele Briefe von Hedwig und Richard Behr. Sie erzählt, dass die Leute neuerdings die Fußböden in den Häusern aufbrechen in der Hoffnung, dort unten Schlacke zu finden zum Heizen. Das Alfredle mit seinen vier Jahren macht immerzu Faxen. Richard schickt jedes Mal einen Gruß an die Kinder mit und manchmal fünf Mark. Dort, wo er nun ist, nützt ihm das Geld nichts. „So weit befinde ich mich gesund“, schreibt er am 4. September 1916. Es wird sein letzter Brief sein.

Aus der Bataillonschronik weiß Jan Rieck, was passierte. Im Juli wird auch das Königlich Sächsische 1. Jägerbataillon Nr. 12 in die Schlacht an der Somme geworfen. Bilder wüster Zerstörung. Minen, Granaten, Feuer. Danach gibt es die Jäger nicht mehr.

Hedwig Behr hört es von einem Nachbarn. Ihr Richard sei vermisst. Wie soll sie das glauben? Sie setzt sich sofort an den Tisch und schreibt: „Es müsste doch wirklich keinen Gott im Himmel geben. Mit was hätte ich diesen Schlag verdient? Wenn ich nur Gewissheit hätte. Mein Kummer ist unsagbar.“ Dieser Brief kehrt ungeöffnet zu ihr zurück. Zehn Tage später der nächste Brief. „Die Kompanie teilt Ihnen mit, dass Ihr Mann als vermisst gilt.“ Die Kompanie schickt auch seinen Pappkarton mit Schreibzeug und Stiften. Die offizielle Todesnachricht kommt ein Jahr später.

Jan Rieck hat lange gezögert, bis er den Brief öffnete, der den Stempel „Retour“ trägt. Es ist jener letzte Brief seiner Urgroßmutter an seinen Urgroßvater. Bis in ihr 36. Jahr konnte man sie sich als ein glückliches Paar denken. Rieck ist ihnen so nahe gekommen wie keiner in der Familie. Er hat noch einen letzten Ordner gefüllt. Er hat ihn gefüllt mit dem Kampf einer Frau, die die Wahrheit nicht akzeptieren will. Sie korrespondiert mit dem Roten Kreuz, dem Kriegsministerium, der Vermisstenstelle. Hedwig Behr will glauben, dass ihr Mann noch am Leben ist. Als 1922 in Geising ein Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges aufgestellt wird, steht hinter dem Namen Richard Behr noch immer: vermisst. Das Denkmal, sagt Rieck, wurde in der DDR weggeräumt und erst jetzt wieder auf den Friedhof gebracht. „Gerade jetzt, als ich über den Briefen saß.“ Bis zum Donnerstag ist Jan Rieck noch unterwegs. Gemeinsam mit einem Cousin läuft er von Belgien aus sechs Tage lang zum deutschen Soldatenfriedhof in der nordfranzösischen Gemeinde Vermandovillers. Auf seinem grünen Shirt steht ein Schriftzug: in memoriam Richard Behr.