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Der Klang der Freiheit

In Sachsen gibt es heute fast doppelt so viele Motorräder wie zur Jahrtausendwende. Woran liegt das? Und wie gefährlich ist das Hobby wirklich?

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© Symbolfoto: Marijan Murat/dpa

Von Katrin Saft

Wenn Eberhard Grohmann den Anlasser drückt, fängt es unter ihm an zu blubbern. Die Schaltung gehorcht mit einem Klack. Die Rechte dreht am Hahn. Die Linke gibt die Kupplung frei und 68 Pferdestärken tragen ihn über den Asphalt: vorbei an abgeernteten Feldern, durch schattige Alleen und einsame Nester. Für Motorradfahrer ist der Weg das Ziel. Und immer mehr Menschen wählen diesen Weg.

Klassisch: Eberhard Grohmann aus Dresden auf seiner schwarzen Harley Night Train. Das limitierte Softail-Modell hat er 2003 anlässlich 100 Jahre Harley-Davidson gekauft. Hingucker sind der umgebaute, 46 cm hohe Ape-Lenker und der vergrößerte Tank. Mit 68
Klassisch: Eberhard Grohmann aus Dresden auf seiner schwarzen Harley Night Train. Das limitierte Softail-Modell hat er 2003 anlässlich 100 Jahre Harley-Davidson gekauft. Hingucker sind der umgebaute, 46 cm hohe Ape-Lenker und der vergrößerte Tank. Mit 68 © Ronald Bonß
Sportlich: Axel Mrasek aus Chemnitz auf einer weiß-blau-roten BMW F850 GS. „Damit lassen sich Straßen- und Geländefahrten optimal verbinden“, sagt er. Die Reise-Enduro ist auf offroad getrimmt. Mit 95 PS und 853 ccm Hubraum ist sie über 200 km/h schnell.
Sportlich: Axel Mrasek aus Chemnitz auf einer weiß-blau-roten BMW F850 GS. „Damit lassen sich Straßen- und Geländefahrten optimal verbinden“, sagt er. Die Reise-Enduro ist auf offroad getrimmt. Mit 95 PS und 853 ccm Hubraum ist sie über 200 km/h schnell. © Ronald Bonß

Während sich die Anzahl der Autos in Sachsen kaum verändert, hat sich die Zahl der Motorräder seit der Jahrtausendwende fast verdoppelt. 172 254 Krafträder waren zum Jahresanfang im Freistaat gemeldet – Mofas und Mopeds mit Versicherungszeichen nicht mitgerechnet. „Eine Entwicklung, die anhält“, sagt Viola Marusch vom Statistischen Landesamt. „Von Januar bis Juni wurden in Sachsen 3 600 fabrikneue Maschinen zugelassen – zwölf Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.“ Die meisten Krafträder sind im ehemaligen Regierungsbezirk Chemnitz gemeldet. In Dresden fahren über 14 000 Motorräder.

Immer potentere Maschinen

Der Trend geht dabei zu immer potenteren Maschinen. Von den bundesweit 4,4 Millionen Motorrädern ist fast jedes dritte mehr als 200 Kilometer pro Stunde schnell. Und das, obwohl oft nur ein kleines Plastikschild vor dem spürbar steigenden Winddruck schützt. Rennmaschinen für die Landstraße, sogenannte Supersportler, fahren fast 300 km/h Spitze. Geschwindigkeiten jenseits der Vernunft. Denn Motorradfahren hat auch viel mit Posen zu tun: mein Rohr ist das dickste, mein Hubraum der größte. Nur jede fünfte in Deutschland zugelassene Maschine fällt mit bescheidenen 51 bis 125 Kubikzentimetern unter die Kategorie Leichtkraftrad.

Insofern ist die Entscheidung für ein Motorrad oft eine rein emotionale. Es geht nicht darum, preisgünstiger als mit dem Auto von A nach B zu kommen. Es geht um maximalen Fahrspaß. „Wir spüren, dass die Leute wieder mehr Geld haben, und dass sie es für ihr Hobby auch ausgeben“, sagt Jonny Vesely, Geschäftsführer des Motorradhauses Zehren bei Meißen.

Zu Händlern wie Vesely kommen vor allem zwei Kundengruppen: die jungen Wilden und die älteren Wiedereinsteiger. „Seit Sachsen 2013 den Mopedschein ab 15 Jahren eingeführt hat, verkaufen wir wieder mehr Mopeds“, sagt Vesely. Für viele der Beginn einer späteren Motorradliebe und vor allem im ländlichen Raum der Schlüssel zu mehr Mobilität. Werden die jungen Erwachsenen dann Eltern, trennen sie sich oft von ihrem Bike – und erinnern sich dann mit 40 bis 50+ wieder daran, wie es war: unbeschwert den Klang der Freiheit zu genießen, die Beschleunigung unterm Hintern zu spüren und den Geruch von Sommer einzuatmen. „Sind die Kinder aus dem Haus, ist endlich wieder Zeit für das Hobby“, sagt Matthias Gärtner, Geschäftsführer des gleichnamigen Motorradshops in Dohna. „Und Motorradfahren verbindet. Man trifft sich zu gemeinsamen Ausfahrten am Wochenende, lernt Leute kennen.“ Yamaha-Händler Gärtner zum Beispiel bietet Abendtrips an. „Ende August geht es eine Woche in die Alpen“, sagt er. „Das kommt gut an.“ Auch die Lady-Touren seien beliebt. Etwas mehr als 13 Prozent der Motorradfahrer in Deutschland sind Fahrerinnen. „Leichte Modelle wie die MT-07 mit nur 164 Kilogramm Gewicht werden bevorzugt von Frauen gekauft“, so Gärtner.

Das Angebot ist in den vergangenen Jahren immer differenzierter geworden. Nahezu für jedes Bedürfnis gibt es heute eine spezielle Maschine: Cruiser, Crosser, Scrambler, Tourer, Allrounder, Custom- oder Naked-Bike, das sich auf das Wesentliche beschränkt – den Fahrgenuss. Die Optik ist entweder futuristisch-aggressiv oder retro. Zurück zu den Ursprüngen, aber bitte mit modernster Technik. Honda zum Beispiel hat seine Africa Twin wieder aufgelegt: 1988 das erste „Adventure-Bike“, heute mit ABS und Traktionskontrolle. Suzuki zelebriert mit seiner neuen SV 650 X den Café-Racer-Stil. Und BMW erinnert mit der Heritage R nineT an die Anfänge der GS-Erfolgsgeschichte. „Unsere Modellpalette beginnt bei etwa 5 000 Euro und reicht bis 80 000 Euro für die limitierte Supersportler“, sagt Axel Mrasek vom BMW-Motorradzentrum Chemnitz. Das meistverkaufte Modell sei die R 1200 GS, die Ikone unter den Reise-Enduros. Während Honda und BMW in Deutschland Marktführer sind, liegen in Sachsen bei den Neuzulassungen Yamaha und KTM vorn. BMW kommt hier erst auf Platz 5 nach Honda und Kawasaki. Obwohl in Zschopau schon seit zehn Jahren keine MZ mehr gebaut wird, sind in Deutschland noch fast 88 500 Maschinen der legendären Ost-Marke zugelassen. US-Hersteller Harley-Davidson ist bundesweit mit circa 223 000 Motorrädern vertreten. In Sachsen werden etwa 300 Harleys im Jahr neu angemeldet. Eberhard Grohmann aus Dresden fährt praktischerweise gleich zwei: die Night Train mit dem showträchtigen Ape-Lenker zum Cruisen und die bequeme Street Glide für lange Ausfahrten.

31 Tote jährlich allein im Freistaat

Dass sich immer mehr Menschen fürs Motorrad begeistern, liegt nicht zuletzt daran, dass die Maschinen besser und sicherer geworden sind: weniger Gewicht, mehr Charakter, Leistung und Komfort. Intelligente Assistenzsysteme unterstützen den Fahrer, leider oft nur gegen Aufpreis: Integralbremsen, ABS Pro fürs Bremsen sogar in Schräglage, gut sichtbare LED-Scheinwerfer, adaptives Kurvenlicht, mehrere Fahrmodi bis hin zu beheizbaren Griffen.

Trotzdem bleibt Motorradfahren gefährlich. Während die Todeszahlen bei Autounfällen in Sachsen sinken, sind sie bei Krafträdern konstant hoch. „31 Motorradfahrer starben 2017 auf den Straßen des Freistaates, 407 wurden schwer und 567 leicht verletzt“, sagt Viola Marusch vom Statistischen Landesamt. Gemessen an der Anzahl der zugelassenen Fahrzeuge ist das Risiko, getötet zu werden, auf dem Motorrad fünfmal größer als im Auto. Tatsächlich liegt es sogar noch höher, denn in der Regel sind Motorradfahrer nur zwischen März und Oktober unterwegs.

Die meisten schweren Motorradunfälle passieren im Kreis Sächsische Schweiz/Osterzgebirge. Auf der Serpentine zwischen Hocksteinschänke und Polenztalstraße – einer beliebten Rennstrecke – hat die Landesunfallkommission deshalb im Frühjahr das Motorradfahren an Wochenenden und Feiertagen verboten. Etwas mehr als die Hälfte der Motorradunfälle in Sachsen sind selbst verschuldet. Ein Fünftel geht auf das Konto der 15- bis 21-Jährigen. „Zudem beobachten wir, dass sich ältere Wiedereinsteiger oft überschätzen“, sagt Marusch.

Ihre Statistik belegt aber auch, dass fast die Hälfte der verunglückten Motorradfahrer unverschuldet starb oder verletzt wurde – zum Beispiel, weil Autofahrer ihnen die Vorfahrt genommen haben. Ein Sturz mit dem Motorrad geht nur selten glimpflich aus. Von Januar bis Mai gab es im Freistaat schon acht Motorradtote – doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum 2017 und fast alle außerhalb von Ortschaften. Das Verkehrsministerium bemüht sich, an gefährlichen Strecken Unterfahrschutz anzubringen, der den Aufprall auf scharfkantige Teile und ein Durchrutschen gestürzter Fahrer verhindern soll. „Bislang wurden fast 50 Kilometer gesichert“, sagt Referent Marco Henkel, „ausschließlich in Kurven.“ Die Landkreise seien gebeten worden, auch Kreisstraßen nachzurüsten.

Die meisten Motorradfahrer sind sich des Risikos durchaus bewusst. Selbst bei harten Kerlen fährt oft ein Glücksbringer mit. Das Hobby polarisiert. Vor allem Anwohner beliebter Strecken fühlen sich durch die Lautstärke genervt. Denn einige Motorradfahrer tunen ihre Maschine, mehr oder weniger legal. Potenz soll man nicht nur sehen, sondern auch hören.

Andere haben Motorradfahrer als Wirtschaftsfaktor entdeckt. So werben bereits 20 Hotels in Sachsen mit dem Siegel „Motorradfreundlicher Hotelbetrieb“, das ADAC und Deutscher Hotel- und Gaststättenverband vergeben. Mindestanforderungen sind gesicherte Stellplätze, Wasch- und Wartungsmöglichkeiten, Trockenmöglichkeiten für nasse Monturen und spezielles Infomaterial.

Wenn Axel Mrasek den Anlasser seiner BMW F 850 drückt, fängt es unter ihm an zu surren. Die Rechte dreht am Hahn: „Starker Sound!“