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Da rutsche ich schnell mal los

Regina Riemer aus Königsbrück bringt Kranke, Schüler und Kneipengänger sicher ans Ziel. Es gibt nur einen einzigen Tag im Jahr, an dem ihre Taxis nicht fahren.

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© Jürgen Lösel

Von Karin Großmann

Es klingt wie eine von diesen reizenden Textaufgaben im Mathematikunterricht. Wenn 65 Schüler morgens auf fünf Orte verteilt werden müssen und von acht Fahrern einer krank wird – wie alt ist dann der Hausmeister? Solche Aufgaben löst Regina Riemer jeden Tag. Sie springt als neunte Fahrerin ein, wenn es nötig ist, und das ist es oft. „Da rutsche ich schnell mal selbst los.“ Einen Hausmeister hat sie nicht. Auch keinen Dispatcher. Was sie hat, ist ein dicker Kalender, ein karierter Schreibblock und ein Haufen Erfahrung.

Außerdem gehört eine füllige Katze zu ihr. Mimi sitzt am Balkonfenster auf einem Hocker und beobachtet das Her und Hin im Hof. Andere Katzen gucken nach Mäusen. Mimi guckt Autos. Deren Farbe heißt Eierschale oder Hellelfenbein und sieht auch so aus. Aber was weiß man schon über die Beine von Elfen. Eine Herde Spatzen stiebt aus der Hecke, als Regina Riemer kurz vor sechs einsteigt. Gefrühstückt hat sie noch nicht. „Früh geize ich mit jeder Minute.“

Ihr Job ist einer für starke Männer. Regina Riemer ist eine starke Frau. Sie hat am Rand von Königsbrück ein Taxiunternehmen aufgebaut, das sie managt. Sie ist 67. Jünger aussehend, das könnte sie in einer Heiratsanzeige getrost behaupten. Doch für solche Anzeigen hat sie gar keine Zeit. Außerdem war sie verheiratet. Es ging nicht gut, und das war nicht der einzige Bruch in ihrem Lebensweg durch die Wendezeit. Von Schwierigkeiten hat sie sich nie schrecken lassen. „Aber wenn ich fünf Zentimer mehr in der Höhe abgekriegt hätte, wäre das schön“, sagt sie, als sie sich hinter das Lenkrad quetscht.

Sie muss dicht heranrücken, sonst reichen die Füße nicht an die Hebel. Auf die Rückbank setzt sich eine Frau aus der Nachbarschaft. Sabine Haupt ist bei Riemers Firma als Begleiterin angestellt für Kinder, die noch zu klein sind, um alleine fahren zu dürfen. Einer wie Leon zum Beispiel. Er wird zum Förderzentrum für Hörgeschädigte nach Dresden gebracht. Und das ist ein Teil des Jobs: 65 Kinder und Jugendliche, die Hilfe brauchen, werden jeden Tag dorthin gefahren, wo sie diese Hilfe bekommen, in Förderschulen, Werkstätten, Heimen. Am Nikolaustag verschenkt Regina Riemer 65 Lebkuchenhäuser oder Schokotafeln. Sie lächelt, als sie davon erzählt. Nicht jeder ihrer jungen Fahrgäste ist an Geschenke gewöhnt.

Mimi, allein im Haus, spaziert um die Welt. In den hellen Teppich sind Stadtnamen eingewebt. London, Paris, New York. Sehnsuchtsorte. Regina Riemer hat sich in diesem Jahr eine Woche Urlaub geleistet. Mit ihrer Schwester war sie im Mai an der Ostsee. „Mit dem Zug! Ich hätte nie gedacht, dass Zugfahren so entspannend sein kann!“

An diesem Morgen fährt sie nach Bischheim, Elstra und Pulsnitz. Sie sammelt drei Jungs ein zwischen sieben und zwölf, Leon, Alexander und Christian. Jeder wirft seine Schultasche in den Kofferraum. „Wenn einer nicht pünktlich ist, zieht das sofort eine Kettenreaktion nach sich“, sagt Regina Riemer. Sie biegt in die Hauptstraße ein. In den Vorgärten blinken die Lichterketten. Mancher rotmützige Kletterklaus hat noch nicht bemerkt, dass sein Trend längst vorbei ist. Im Autoradio behauptet ein Popsänger: Wir fliegen weg, denn wir leben hoch. Später läuft die Werbung für eine Kaffeemaschine.

Die Schüler mögen MDR Jump am liebsten. Wenn die Chefin allein fährt, hört sie mehr Klassisches. Vor allem hört sie auf den Verkehrsfunk. Sie kennt jeden Schleichweg zwischen Dresden und dem Lausitzer Hügelland. Stau bedeutet verspäteter Start in den Unterricht. Sie scheint die Lehrpläne sächsischer Schulen im Kopf zu haben. Das nützt aber nichts, wenn eine Mutter über die Freisprechanlage anruft und mitteilt, dass der Tim heute eine Stunde früher Schluss hat. Regina Riemer sagt, dass das okay ist, was es natürlich nicht ist, und dass sie sich kümmern wird.

Schüler sollen nicht herumstehen am Straßenrand. Sonst kommen sie auf dumme Gedanken. Regina Riemer erzählt von einer Vierzehnjährigen, die plötzlich verschwunden war. Den Fahrer traf keine Schuld, ihn hatte ein Laster gestoppt. „Aber ich hab mir trotzdem Vorwürfe gemacht und bin kreuz und quer durch Dresden gefahren, um das Mädchen zu finden“, sagt Regina Riemer. Die Polizei war erfolgreich. Die Mutter nahm den Fall gelassener als alle anderen. Obwohl er Jahre zurückliegt, erinnert sich Regina Riemer daran. „Man hat eine große Verantwortung.“

Der Wagen fährt bei Hermsdorf auf die Autobahn und mitten hinein in den Fortschritt, der Bierkästen von Nord nach Süd und von Süd nach Nord kutschiert. Dann der nächste Abzweig nach Dresden. Ein Lächeln zum Blitzer. Heute mal nicht. Zwei junge Leute vorm Förderzentrum nehmen Leon in Empfang. Seine Begleiterin Sabine Haupt hilft mit dem Ranzen. Die anderen Gebäude stecken tief in der Dunkelheit des Wintermorgens. Nur an der Sporthalle ist ein Fenster erleuchtet. Der Pförtner dort frühstückt Pfannkuchen. Ein Betonmischer brummt in den Hof. Regina Riemer schiebt sich geschickt dran vorbei und gibt Gas. Sie würde nicht sagen, sagt sie, dass sie schnell fährt. „Ich fahre zügig.“

Drei Ampeln und vier Spurwechsel später geht es am Bahnhof Neustadt vorbei zur Schule nach Löbtau. Alexander zieht seine Mütze ins Gesicht und schläft schnell noch eine kleine Runde.

Nichts, was Regina Riemer lieber täte. Ihr Schlafdefizit dürfte sich nicht in Stunden, sondern in Jahren bemessen. Zuerst beanspruchte der behinderte Sohn alle Zeit der Welt. Sie hätte sich gern mit anderen betroffenen Eltern zu einem Fahrdienst zusammengeschlossen, doch das konnte erst nach dem Wendeherbst funktionieren. Regina Riemer baute im Landkreis den Verein Lebenshilfe mit auf. Bis zum Vorjahr saß sie dort noch im Vorstand. Sie hatte Handelskaufmann gelernt, arbeitete nach ’89 in einer Baufirma im Büro und träumte von der Selbstständigkeit. Sie wollte ihr eigener Herr sein. Und weil sie eine Frau schneller Entschlüsse ist, meldete sie sich auf eine Zeitungsanzeige und war am Tag drauf Unternehmerin für Geschenkartikel.

Sie erzählt, wie sie Glasflaschen bei großer Ofenhitze kunstvoll verbogen hat. Sie wurden gefüllt mit Alkohol oder Badeschaum. „Ich hab gutes Geld verdient. Aber man kann nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen.“ Seit 1998 betreibt sie den Fahrdienst hauptberuflich, die Verantwortung trägt sie inzwischen allein. „Da hängt mein Herzblut dran.“ Eine üppige Rente ist damit allerdings nicht verbunden. An einem mächtigen Bau aus der Gründerzeit steigt Alexander aus, er läuft auf eine Gruppe von Schülern zu. Regina Riemer wartet einen Moment und schaut ihm nach, bis sie sich in die Autoschlange einfädelt. Schlechte Sicht an der Ecke zur Kesselsdorfer. Es dauert. Der Volkswagen brummt leise. Das erste Auto, das sie fuhr, war ein blauer Trabant. Mitte der Siebzigerjahre hat sie die Fahrprüfung absolviert. Ein einziger Unfall bisher. Jemand hatte ihr die Vorfahrt genommen. „Einen halben Meter weiter, und es hätte böse geendet.“

Am Straßenrand steht ein Mann und hält mit beiden Händen ein Brötchen fest, aus dem Fleischreste und Salatblätter hängen. Kurzer Blickwechsel. Vorbei. Der Sprecher im Radio versprüht penetrant gute Laune. Weiter über die Nossener Brücke und Richtung Pirna. Regina Riemer unterhält sich mit Christian, der neben ihr sitzt. Wann sich seine Klasse auf dem Weihnachtsmarkt trifft, worauf er sich in den Ferien freut. Er antwortet leise, doch er kann wohl auch heftiger reagieren. Er verabschiedet sich an einer Schule in Leubnitz, die spezielle Erziehungshilfe leistet.

„Ich hatte noch nie mit einem Schüler Probleme“, sagt Regina Riemer. „Dafür hat man doch ein Gespür.“ Ihr behinderter Sohn ist inzwischen erwachsen. Sie hat das Heim mit aufgebaut, in dem er lebt. Zu Weihnachten kommt er nach Hause. Der Weihnachtstag ist der einzige Tag im Jahr, an dem alle neun Fahrzeuge auf dem Hof in Königsbrück stehen bleiben. „Da bin ich nicht erreichbar, und das ist wunderschön.“ Mimi am Balkonfenster wird es wundern. Die Katze streicht durch die Küche, als Regina Riemer die Tür aufschließt. Es ist kurz nach neun. Unterwegs ist sie beim Bäcker vorbeigefahren. Sie füllt Kaffee in die Maschine, stellt Butter und Honig auf den Tisch. „Frühstücken ist das Wichtigste am Tag.“ Am Ende wird es doch immer ein Arbeitsfrühstück.

Die Schülerfahrten werden vom Landkreis für vier Jahre ausgeschrieben. Das gibt einer Firma Sicherheit. Allerdings gilt der Vertrag auch dann, wenn sich die Konditionen ändern und zum Beispiel der Mindestlohn eingeführt wird. Da hat sie sehr kämpfen müssen um einen Zuschuss, sagt Regina Römer. Kämpfen ist das, was sie kann. „Jetzt“, sagt sie, „wo es endlich gut läuft, jetzt muss ich bald aufhören. Es ist an der Zeit.“

Bis sie den richtigen Nachfolger findet, versucht sie die Quadratur des Kreises am Frühstückstisch immer neu. Welcher Fahrer holt welchen Schüler wann aus Radeberg, Wachau oder Kamenz ab, wer bringt die kranke Frau Vetter zum Arzt und den Rollstuhlpatienten zur Dialyse? Mehr als zwanzig Termine sind täglich unter einen Hut zu bringen. Wenn dann der Tim früher Schulschluss hat als geplant, beginnt alles von vorn. Regina Riemer rangiert mit Filzstiften auf ihrem Schreibblock. Sie malt grüne, blaue und rote Kringel. Jeder Fahrer bekommt seine Farbe und seine Tour zugeordnet. Die meisten Fahrer sind fest angestellt, einige als geringfügig beschäftigt. Zu den besten, sagt Regina Riemer, gehört eine junge Frau, die vorher mit zwei kleinen Kindern bei Hartz IV saß. „Es ist schwierig, gute Leute zu finden, die zuverlässig und pünktlich sind und mit Behinderten, Alten und Kranken umgehen können. Da darf man kein Muffeltier sein.“ Reden ist für Regina Riemer auch dann das richtige Rezept, wenn ihr mal ein Stiesel komisch kommt, wie sie das nennt.

Zwischen zwei Brötchenhälften gibt die Chefin am Handy einem Kollegen den nächsten Takt vor. „11 Uhr holst du den Angelo und die Mia ab, 13 Uhr die Pauline, dann kannst du 13.15 Uhr an der Forstschule sein. 14 Uhr tauschst du das Auto mit Maik, der fährt den großen Krankentransporter.“ So muss ein siegreicher Feldherr einst seine Schlachten geplant haben.

Da ist noch gar nicht die Rede von jenen Abenden, die ein Taxi vor einem Gasthof verwartet, bis sich wirklich alle Geburtstagsgäste herzlich voneinander verabschiedet haben. Regina Riemer erinnert sich, wie sie in einer Faschingsnacht einen angesäuselten Gast in die letzte dunkle Ecke eines Dorfes zu fahren hatte. Er müsse erst sein Geld holen, sagte er und verschwand. Sie hatte beinahe aufgegeben, als er zurückkam und ihr einen Zehner in die Hand drückte. Als sie sich beschwerte, behauptete er, es sei ein Fünfziger gewesen. Eine resolute Drohung mit der Polizei half.

Exakt eine Dreiviertelstunde später klingelt der Wecker im Handy. Regina Riemer stellt die Butter in den Kühlschrank, streicht Mimi über den Kopf und fährt nach Dresden, um Alexander aus der Schule zu holen. Sie fährt vorbei an dem Denkmal, das an die Jagd auf den letzten Wolf erinnert und um das wohl bald kichernd ein neuer Wolf streichen wird. Neulich war der Wald hier schneeweiß. Regina Riemer kann sich immer noch an der Landschaft freuen und am Wechsel der Jahreszeiten.

An diesem Tag wird sie die Strecke noch zweimal fahren. Dann kommt auch die Begleiterin Sabine Haupt wieder mit. Ein Halt beim Bäcker ersetzt das Mittagessen. Es ist ein Leben unter ständigem Zeitdruck. Immer mehr Kunden kommen dazu. Wenn die Gesellschaft älter wird, hat das auch Folgen fürs Taxigeschäft. Manchen Fahrgast begleitet Regina Riemer seit Jahren durch Höhen und Tiefen. Sie lernt Krankheitsbilder und Familienverhältnisse kennen, tröstet, spricht Mut zu und könnte ihr Brot wohl auch als Eheberaterin verdienen. Am Nachmittag bringt sie eine Frau aus dem Nachbarort zur Bestrahlung. Sie erkundigt sich, wie es der Kranken geht.

Wie es ihr selbst geht? Diese Frage hört die 67-jährige Regina Riemer nie. Sie funktioniert. Das genügt. Wenn aber einer fragte, würde sie antworten: „Ich sehne mich sehr nach Ruhe.“