Meißen
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Corina, Corina

Für den US-Amerikaner Gary Hohenstein lag das Glück auf einer Straße in New York. In Meißen hätte er es beinahe verloren.

Von Klemens Fraustadt
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Meißen. New York, Mitte der neunziger Jahre. Gary Hohenstein, US-Amerikaner und Rettungssanitäter, hat die Nase voll von Beziehungen. Seine Ehe ist zerbrochen, trotz der drei gemeinsamen Kinder. Nach der Scheidung möchte er mit Frauen erst einmal nichts mehr zu tun haben. Bis zu jenem Dezembertag 1996.

Auf Fahrten zum Beispiel nach Dresden entdeckte Gary Hohenstein sein neues Zuhause, die Heimat seiner Frau Corina.
Auf Fahrten zum Beispiel nach Dresden entdeckte Gary Hohenstein sein neues Zuhause, die Heimat seiner Frau Corina. © privat

Hohenstein wird zu einem Verkehrsunfall mitten in New York gerufen. Dort versorgt er das Unfallopfer Corina Großmann, bringt sie mit leichten Verletzungen in ein Krankenhaus. Die beiden kommen ins Gespräch, weil Gary den deutschen Akzent in ihrer Sprache erkennt. Er erzählt von seinen Großeltern, die aus Bremen kommen. Seinen Vorfahren verdankt er auch den deutschen Nachnamen.

Als Corina erzählt, dass sie aus dem Osten der Republik stammt, geht Gary in der eigenen Familienhistorie noch weiter zurück. Im 19. Jahrhundert hat seine Familie in Großenhain gelebt – in jenem Ort, in dem Corina aufgewachsen ist.

Die junge Frau hatte sich in Tharandt zur Ingenieurin für Forstwirtschaft ausbilden lassen, war danach in die USA gegangen. Eigentlich war damals ein Aufenthalt von ein paar Monaten geplant, am Ende sollte sie 17 Jahre lang in den Vereinigten Staaten bleiben. Als sie das Land schließlich wieder verlässt, ist es zusammen mit Gary Hohenstein.

Anderthalb Jahre nach dem schicksalhaften Zusammentreffen auf einer Straße New Yorks heiraten Gary Hohenstein und Corina Großmann. Das Paar lebt im Umkreis der Weltmetropole, führt ein aktives und vielseitiges Leben. Seine wahrscheinlich größte berufliche Herausforderung erfährt Hohenstein, als er im September 2001 in New York den Terroranschlag auf das World Trade Center miterleben muss. An diesem Tag ist er als Sanitäter im Einsatz. Eine Erinnerung, die ihn geprägt hat.

Neun Jahre später packt Corina das Heimweh. Ihre Eltern wohnen in Meißen, ihr Bruder ebenfalls, sie hat Verwandtschaft in der Region. 2010 bekommt sie ein Jobangebot aus Dresden. Der Sanitäter, 19 Jahre älter als seine Frau, geht mit 59 Jahren in Vorruhestand. Gemeinsam entscheidet sich das Paar für einen Umzug nach Meißen. Hier belegt Gary Hohenstein einige Deutsch-Kurse, aber die neue Sprache bleibt für ihn schwer zu erlernen.

Im Alltag kümmert sich deshalb seine Frau um Telefonate, beantwortet Briefe und ist sein Dolmetscher, wenn er nicht weiter weiß. Dafür bleibt er zu Hause, geht einkaufen und richtet die neue Wohnung ein. Gern wäre er auch in die Freiwillige Feuerwehr eingetreten oder hätte als Sanitäter gearbeitet, doch seine amerikanischen Zertifikate werden hier nicht anerkannt und eine neue Ausbildung möchte er in seinem Alter nicht mehr beginnen.

Immer wieder fahren Corina und Gary gemeinsam nach Dresden, genießen Kunst und Kultur, zweimal im Jahr fliegen sie in die USA, wo er seine Kinder und mittlerweile auch zwei Enkel besucht. Bis eine Nacht im August des vergangenen Jahres alles ändert.

Corina erleidet einen Schlaganfall, mit gerade einmal 47 Jahren. Einige Wochen muss sie auf der Intensivstation des Krankenhauses verbringen, dann wird sie in die Bavaria-Klinik Kreischa verlegt, auch dort zunächst auf die Intensivstation. Sie erhält verschiedene Behandlungen, wird in der Dresdner Uniklinik operiert.

Mehr als vier Monate später liegt Corina noch immer in Kreischa. Ihre rechte Körperhälfte ist gelähmt, sie hat schwere Schäden davongetragen. Zwar versteht sie noch, was Gary ihr erzählt, selbst äußern kann sie sich aber nur schwer. Manchmal zeigt Gary ihr Bilder von Tieren, einige erkennt sie, an andere erinnert sie sich nicht.

Die Prognosen der Ärzte sind schwierig, die Zukunft des Paares ist ungewiss. Gary hofft, sie bald nach Hause holen zu können, und schaut sich nach behindertengerechten Wohnmöglichkeiten um. Ihre derzeitige Wohnung in Meißen-Bohnitzsch ist nicht für Rollstuhlfahrer geeignet. Er ist in ständigem Kontakt mit Ärzten, Versicherungen und Behörden.

Sein größtes Problem dabei: die noch immer so fremde Sprache. Gary spricht fast kein Deutsch und ist stets darauf angewiesen, dass sein Gegenüber Englisch kann. Vor allem am Telefon ist es ihm fast unmöglich, Gesprächen zu folgen. Oft bittet er darum, ihn per Mail zu kontaktieren, damit er sich die Nachricht von Online-Anbietern übersetzen lassen kann.

Kürzlich war er auf dem Weg zu seiner Frau nach Kreischa, als ein Motorradfahrer von hinten sein Auto rammte. Er kurbelte die Scheibe herunter, doch als der Unfallverursacher bemerkte, dass Gary kein Deutsch spricht, raste er wortlos davon. Geistesgegenwärtig notierte sich der Amerikaner das Kennzeichen, sein Autohaus in Großenhain verständigte schließlich für ihn die Polizei. Probleme wie diese sind es, die Gary das Leben noch viel schwerer machen, als es im Moment ohnehin schon ist.

Genau deshalb suchte Gary Hohenstein vor wenigen Tagen über das Lokalportal Meißen Unterstützung, jemanden, der ihm ein- bis zweimal pro Woche bei der Klärung verschiedenster Sachen als eine Art Dolmetscher helfen kann, ob bei Telefonaten mit der Versicherung, Gesprächen mit Ärzten oder dem Übersetzen von Wohnungsanzeigen und Mietverträgen für neue, behindertengerechte Wohnungen. Über Facebook wurden die Geschichte und der Aufruf mehrfach geteilt – mit Erfolg.

Schon acht Menschen haben sich mittlerweile bei ihm gemeldet, drei davon hat Gary Hohenstein bereits getroffen. Da die meisten berufstätig sind, können sie ihn aber nicht tagsüber zu Ämtern begleiten. Sie haben deshalb vereinbart, dass er sich von Fall zu Fall bei ihnen meldet, wenn er Hilfe braucht. Die Suche nach einer neuen Wohnung ruht momentan. Das Paar will versuchen, erst einmal zu Hause zurechtzukommen. In etwa einem Monat kann seine Frau Corina wohl wieder dorthin zurückkehren.