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Bootsfahrt zum Leichenfeld

Seit 65 Jahren reklamiert Torgau die Begegnung der Alliierten an der Elbe für sich. Spurensuche am wahren Ort des ersten Treffs von GIs und Rotarmisten.

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Von Thomas Schade

Die Schaluppe schwimmt längst nicht mehr auf der Elbe zwischen Strehla und Lorenzkirch von Ufer zu Ufer. In den Orten unweit von Riesa weiß kaum einer, wo das alte Beiboot des Fährmanns Oswin Richter geblieben ist. Hinweise führen auf das weitläufige Zeithainer Militärgelände hinter einer Lastwagenhalle. Dort liegt der zwölf Meter lange Kahn – einigermaßen geschützt unter einer Armeeplane.

Rüdiger Schwark zieht den Wetterschutz beiseite. Zum Vorschein kommt ein Wrack – ohne Schiffsboden und mit eisernen Bootsspanten, an denen seit Jahrzehnten der Rost frisst. Die hölzernen Planken sind nur außen noch glatt, wo Teer den Zerfall verhindert. Vor 16 Jahren habe er mit dem Militärhistorischen Verein das Boot übernommen, sagt Rüdiger Schark. „Sonst wär es wohl gar nicht mehr da.“

Schwark ist Forstmeister und Sachverständiger für historische Militärtechnik. Die alte Schaluppe ist nicht unbedingt sein Sachgebiet. Aber er möchte sie erhalten. Denn militärhistorisch bedeutend ist der zerfallende Kahn allemal. Auf ihm setzten am 25. April 1945 sechs amerikanische GIs von Strehla über die Elbe nach Lorenzkirch, um sich mit Rotarmisten zu treffen – voreilig und ohne den Segen der Generäle. Erst Stunden später zelebrierten Sowjets und Amerikaner 20 Kilometer elbabwärts in Torgau die Begegnung ihrer alliierten Armeen als Meilenstein auf dem Weg zum Sieg über Hitlerdeutschland.

Relikt einer große Episode

Die alte Schaluppe ist das letzte existierende Relikt dieser bedeutsamen Episode am Ende des Zweiten Weltkrieges, die aber nur Torgau weltbekannt machte. Bis heute reklamiert die Stadt den historischen Brückenschlag für sich. Zum Verdruss dreier kleiner Orte flussaufwärts, wie Dorle Körnig und Lothar Schlegel bestätigen. Die Lehrerin und der Eisenbahner, beide pensioniert, pflegen die Ortschroniken in Lorenzkirch, Kreinitz und Strehla. Sie geben Auskunft über die wichtigste Fahrt der Schaluppe in der Mittagsstunde des 25. April 1945.

Albert Kotzebue, ein 23-jähriger Leutnant des 273. Regimentes in der 69. Division der 1. US-Army, war mit einem Aufklärungszug am Vorabend aufgebrochen. Sie suchten die „Reds“, die Rote Armee. Die Kriegsherren Truman und Stalin wollten, dass sich die Oberbefehlshaber der Armeen am 27. April 1945 an der Elbe offiziell die Hand reichen, schreibt Marc Scott in seinem Buch „Yankees treffen Rote“.

In jedem Dorf, durch das Kotzebue mit seinen 36 GIs kam, fragte er nach dem Weg zur Elbe. Am Leckwitzer „Lindhofgut“ sichteten sie einige Reiter. „Buck“, wie die Männer Kotzebue nannten, feuerte eine Leuchtkugel „Grün“ ab – das zwischen den Alliierten vereinbarte Erkennungszeichen der Amerikaner. Minuten vergingen. Dann stieg eine Kugel „Rot“ in den trüben Himmel, das Zeichen der Russen.

Die Toten von Lorenzkirch

Schon am Sonntag, den 22. April, hatten Aufklärer der Roten Armee am Elbbogen bei Kreinitz auf einem Schlauchboot den Strom von Ost nach West überquert und einen Brückenkopf gebildet. Männern dieses Spähtrupps stand Kotzebue plötzlich gegenüber. Einer von ihnen, angeblich ein polnischer Partisan, führte die GIs nach Strehla. „Durch meinen Feldstecher sah ich Männer in braunen Feldblusen, es waren Russen“, erinnert sich Kotzebue später an seinen ersten Blick über die Elbe nach Lorenzkirch.

Dort, am Ostufer, hielten der 15-jährige Heinz Schöne und sein Freund Siggi an diesem Vormittag den Fährbetrieb aufrecht. Entlassene Kriegsgefangene, Flüchtlinge, sogar KZ-Häftlinge in gestreifter Kleidung lagerten an den Elbwiesen und wollten übersetzen. Es herrschte Chaos. Plötzlich sei auf Strehlaer Seite eine kleine Fahrzeugkolonne aufgetaucht mit Soldaten, deren Uniform er nicht kannte, schreibt Schöne später in seiner Chronik über diese Tage.

Es waren die sieben Jeeps von „Buck“ Kotzebues Patrouille. Sie hatte an Oswin Richters Wagenfähre gestoppt. Das große Boot war gesunken. Nur die Schaluppe lag angekettet am Strehlaer Ufer. Von Lorenzkirch winkten Russen herüber. Sie forderten die Amerikaner auf überzusetzen. Doch zunächst klopften „Buck“ und seine Männer bei Erich Frick an die Tür. Die hungrigen GIs erleichterten den Bauern um seine letzten Hühnereier. Einen ganzen Korb voll tranken die Soldaten aus. Dann sprengte Kotzebue mit einer Handgranate die Kette an der Schaluppe und ruderte mit fünf Männern über die Elbe. Eine halbe Stunde kämpften sie gegen die Strömung, ehe ihnen ein Rotarmist am Ostufer ein Seil zuwarf.

Kurz darauf reichten sich erstmals zwei Offiziere der alliierten Armeen Stalins und Trumans auf dem Schlachtfeld des Zweiten Weltkrieges die Hand: US-Leutnant Albert Kotzebue und Oberstleutnant Alexander Gordejew, Kommandeur der Vorausabteilung des 175. Gardeschützen-Regiments. Joe Polowsky, Mitglied der US-Patrouille, hielt fest: „Die Russen bahnten sich ihren Weg durch die Leichen. Da waren wir nun, furchtbar angekratzt, inmitten der Toten.“

Tatsächlich fand die erste russisch-amerikanische Begegnung inmitten einer gespenstischen Kulisse statt. Drei Tage zuvor hatte die Wehrmacht die Pontonbrücke zwischen Strehla und Lorenzkirch gesprengt. Mit ihr flogen Menschen, Tiere und Fuhrwerke in die Luft, die in letzter Minute über die Elbe wollten. Ein furchtbarer Anblick, den der 15-jährige Heinz Schöne in der Ortschronik festgehalten hat.

Noch weit mehr zivile Opfer, so der Torgauer Heimatforscher Uwe Niedersen, gingen allerdings auf das Konto der Sowjets. Sie hätten den Ort voller Flüchtlinge noch mit Artillerie beschossen, als die Wehrmacht schon abgezogen war. 200 bis 300 tote Zivilisten, Tierkadaver und zerschossene Fuhrwerke sind als Leichenfeld von Lorenzkirch in die Geschichte eingegangen. Kotzebue und seine Leute waren erschüttert und benutzen später das Wort „slaughter“, Massaker, als sie die Szenerie beschrieben.

Ein mächtiger Kommissar

Es drohten Schuldzuweisungen angesichts so vieler toter Zivilisten vor den sowjetischen Linien. Das ahnte wohl am Mittag des 25. April 1945 vor allem einer: Polit-Kommissar Igor Karpowitsch. Er erkannte schnell, dass das Leichenfeld von Lorenzkirch nicht der Ort war für ein weltpolitisches Ereignis, wie es sein Feldherr Stalin sehen wollte. Karpowitsch, Mitte 40, ein untersetzter Polit-Oberst mit runder Hornbrille, brach das Treffen kurzerhand ab. Kotzebue und Gordejew saßen schon im Auto und wollten in den sowjetischen Befehlsstand fahren. Doch Kraft seiner Macht als Kriegskommissar forderte Karpowitsch den US-Offizier auf, wieder auszusteigen. Kotzebue sollte mit seinen GIs zurück ans Westufer rudern. Karpowitsch entwarf das Szenario für eine zweite Begegnung drei Kilometer flussabwärts in Kreinitz, wo die Amerikaner eine reichliche Stunde später zum zweiten Mal über die Elbe setzten – mit dem Jeep auf einer Ziehfähre.

Nun warteten am Kreinitzer Ufer jede Menge begeisterte Rotarmisten. Fotografen hielten die überschwengliche Begrüßung fest. Zeitzeugen berichten von Verbrüderungen. Sie mündeten in einem ausgiebigen Gelage, das erst am nächsten Tag endete. Man tauschte Feuerzeuge, Tabakbeutel und Uniformknöpfe. Mit dem US-Major Frederick W. Craig und dem Sowjetgeneral Wladimir Rusakow nahmen an dieser zweiten Begegnung auch die ersten höheren Dienstgrade beider Armeen teil. Als in Kreinitz schon gefeiert wurde, traf nach 16 Uhr zwanzig Kilometer elbabwärts in Torgau eine zweite US-Patrouille unter Führung von William Robertson ein und wurde von Sowjetsoldaten freudig begrüßt.

Die Wahrheit – lange ein Tabu

Einen Tag später, am Nachmittag des 26. April, überquerte der erste US-General die Elbe – in einem Sportboot des Torgauer Rudervereins. Wenige Stunden vorher hatte der US-Fotograf Allen Jackson drei „Yankees“ und drei „Reds“ auf der zerstörten Brücke drapiert und jenes Bild geschossen, das als erste Begegnung der Alliierten in Torgau an der Elbe um die Welt ging.

So feiert die Stadt auch an diesem Wochenende die 65. Wiederkehr des sogenannten Elbe day mit Pauken und Trompeten. Rüdiger Schark und sein militärhistorischer Verein werden mit alten US-Jeeps nochmals Streife fahren. In Kreinitz wird am Sonntag, kleiner und bescheidener, das Heimatmuseum wiedereröffnet. Es musste aus der Schule ausziehen, in der die Lehrerin Dorle Körnig mit ihren „Jungen Historikern“ seit 1984 die Begegnungen an der Elbe erforscht hat. Die Ergebnisse sind ein wichtiger Teil der Ausstellung. Ziel war es über die Jahre auch zu erkunden, welche Rolle die drei kleinen Elborte am Zustandekommen der historischen Begegnung hatten. „Aus eigenem Erleben und aus den Überlieferungen wussten wir ja, wie es wirklich war“, sagt Helmut Kühne, bis zur Pensionierung viele Jahre Bürgermeister in Strehla. „Torgau stand immer im Mittelpunkt, wir mussten kämpfen um unseren Platz in der Geschichte.“ Aus Rücksicht auf die deutsch-sowjetische Freundschaft in der DDR war das Leichenfeld von Lorenzkirch lange ein Tabu. Erst nach 1990 wurde den Opfern ein Gedenkstein gesetzt.

Uwe Niedersen fand heraus, dass die erste Begegnung in Lorenzkirch weder in amerikanischen, noch in sowjetischen Militärakten auftaucht. Die Rote Armee hat das zweite Treffen in Kreinitz dokumentiert. Die US-Armee sperrte ihre Helden Kotzebue und Robertson sogar kurzzeitig ein, weil sie ihre Patrouillenkorridore verlassen hatten und zu früh an der Elbe waren. Sie hatten den Generälen die Show gestohlen. Als die sich am 26. April in Torgau trafen, war in Kreinitz die Party der einfachen Frontsoldaten längst im Gange. Auch Rotarmisten bekamen Ärger, weil sie mit höherrangigen US-Offiziern am Westufer einen getrunken hatten.

Gespräche „in aller Stille“

Solche Episoden der Geschichte erfuhren die Heimatforscher am Rande der offiziellen Gedenkfeiern „in aller Stille“, wie Heinz Schöne es nannte. 1985 sprach Dorle Körnig mit Kotzebue, der nochmals in Strehla weilte und sich nach 40 Jahren auch bei Bauer Frick wegen der geklauten Eier entschuldigte. Er und anderte Ex-GIs bestätigten, dass sie in Lorenzkirch und Kreinitz ihre ersten Begegnungen mit den Sowjets hatten. 1991 erkannte einer von „Bucks“ Männern die alte Schaluppe wieder. Sie lag achtlos am Strehlaer Ufer, zernagt vom Zahn der Zeit. Selbst als Wrack wäre sie ein Prunkstück für das Kreinitzer Museum. Doch das Boot ist zu groß für die kleine Ausstellung. Fast so, wie die Begegnung an der Elbe weltpolitisch zu bedeutend war für drei so kleine Orte wie Strehla, Lorenzkirch und Kreinitz.