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Alleingelassen und verwahrlost

Die Freitalerin Hana H. überließ ihre Kinder sich selbst. Eines starb nach einem Unfall. Nun stand sie vor Gericht.

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© Karl-Ludwig Oberthuer

Von Annett Heyse

Freital. Immer wieder greift sie zum Taschentuch, schluchzt. „Ich weiß, dass ich einen großen Fehler gemacht habe. Es tut mir leid“, sagt sie leise am Dienstag zum Richter Xaver Seitz vor dem Amtsgericht Dippoldiswalde. Fertig sei sie gewesen, sie konnte einfach nicht mehr. Deshalb sei vieles so gekommen, wie es nun in der Anklage stehe.

Was Hana H., in Tschechien geboren und seit vielen Jahren in Deutschland wohnend, vorgeworfen wird, klingt nicht zwingend dramatisch: Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht. Doch die Geschichte, die dahintersteckt, ist eine vom Rand der Gesellschaft. Mitten in Freital verwahrlosten Kinder, ohne dass jemand einschritt. Das Ergebnis: Der älteste Sohn, nunmehr 19 Jahre alt, sitzt als Intensivtäter derzeit im Gefängnis. Zwei weitere Söhne, inzwischen zwölf und acht Jahre alt, leben im Kinderheim. Ein weiteres Kind ist tot. Wie konnte es soweit kommen?

Lange verläuft das Leben von Hana H., die Schneiderin gelernt hat, unscheinbar. Sie lebt in Freital, zusammen mit einem Kubaner, das Paar hat drei Kinder und jede Menge Streit. Als sie sich von ihrem Partner nach Jahren voller Aggressionen und Gewalttätigkeiten trennt, wird es nur schlimmer. Der Mann ist eifersüchtig und sinnt auf Rache – so erzählt es Hana H. Um den Nachstellungen zu entgehen, flieht sie 2013 nach England, wo ihr Bruder lebt. Die Kinder nimmt sie mit. In England lernt sie einen neuen Mann kennen, bald erwarten die beiden ein Kind. Kurz sieht es so als, als werde alles besser und das Leben der Familie komme wieder ins Lot. Doch als Mohammad Ende November 2014 in Manchester zu Welt kommt, ist der Vater tot. „Er starb auf dem Weg zur Arbeit bei einem Autounfall“, erzählt Hana H. unter Tränen. Im Dezember 2014 kommt sie zurück nach Freital und zieht mit den Kindern und dem Neugeborenen in eine Wohnung auf der Güterstraße 9 ein.

Nun kreuzt der Kubaner wieder auf, er nimmt auch den ältesten Sohn zu sich. Und die Streitereien gehen von vorn los. „Er schlug mich, die Kinder brüllte er an und bedrohte sie“, berichtet die zierliche Frau mit dem ausgemergelten Gesicht. Sie habe sich nicht zu helfen gewusst, wollte zur Polizei gehen, aber da habe ihr der Ex noch mehr gedroht. „Ich war fertig, ich konnte nicht mehr, mich machte das krank.“

Sie lernt einen neuen Mann kennen, einen Pakistaner, der in Italien lebt. Im Herbst 2016 kommt der Mann nach Freital, zieht bei Hana H. ein. Der älteste Sohn kommt mit der Situation nicht klar, auch er schlägt nun seine Mutter, verwüstet die Wohnung, zertrümmert Möbel, geht die jüngeren Geschwister an, klaut, nimmt Drogen. Und Hana H.? Sie lässt es über sich ergehen. Hilfe sucht sie keine. Als das Geld aus ist, weil der Große mit der gestohlenen EC-Karte das Konto geplündert hat, ist nicht mal mehr etwas zum Essen im Haus. Hana H., die von Hartz IV lebt, muss Freundinnen um Geld anbetteln.

Mit ihren Kindern ist die Frau völlig überfordert. Sie ist zu dem Zeitpunkt wieder schwanger. Der zweitälteste Sohn, eigentlich schulpflichtig, lungert den ganzen Tag zu Hause herum. Auf die Idee, den Jungen in die Schule zu schicken, kommt sie nicht. Dessen jüngerer Bruder, übergewichtig, hat verfaulte Zähne.

Anfang Oktober 2016 wird das Jugendamt nach Hinweisen der Polizei zunächst auf den Größten aufmerksam. Der Teenager entwickelt sich zum Intensivtäter, ein Sozialarbeiter nimmt zu der Familie Kontakt auf. Fast gleichzeitig alarmiert der Hauseigentümer am 9. Oktober die Polizei, weil jemand aus dem Fenster kleine Butterwürfel herunterwirft. „Als wir hinkamen, sagte der Mann, das seien bestimmt die Kinder aus der Dachgeschosswohnung, die wären öfters mal alleine“, erinnert sich ein Polizist an den Einsatz. Die Beamten verschaffen sich Zutritt und treffen auf vier Kinder: die drei jungen Brüder und einen Freund des Ältesten. Die Wohnung ist verunreinigt, die Küche verwahrlost, im Kühlschrank lagern verschimmelte Essensreste. Etwas zu trinken gibt es nicht. Die Polizei erreicht Hana H. schließlich übers Handy. Die Frau ist in Dresden, die Kinder sind seit Stunden alleine. Die Beamten informieren das Jugendamt.

Ein Familienhelfer wird eingesetzt. Er trifft sich mit Hana H. und ihren Kindern, zunächst in einem Park, ein paar Tage später im Oktober in deren Wohnung. Hana H. hat inzwischen aufgeräumt und saubergemacht. Ihr neuer Freund, der Pakistaner, ist da. „Ich hatte den Eindruck, dass sie sich über die Hilfe freuen“, gibt der Sozialarbeiter zu Protokoll. Er will neue Möbel besorgen und verabschiedet sich. Zwei Tage später, am 28. Oktober, ist Mohammad tot. Gestorben an Verletzungen eines Sturzes kurz vor seinem zweiten Geburtstag.

Hana H. ist zu dem Zeitpunkt einkaufen, das rekonstruiert die Polizei später über die Handy-Daten. Der neue Freund passt auf das Kind auf. Die genauen Umstände des Todes sind bis heute nicht ganz geklärt. Wahrscheinlich starb der Junge an den Folgen eines Treppensturzes. Hana H. trocknet sich die Tränen. Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht – wie harmlos das klingt.

Jahrelang hat um sie herum ein familiäres Chaos geherrscht. Wechselnde Partner, Schläge und Gewalt, verschiedene Wohnorte, Geldprobleme, keine feste Tagesstruktur. Der Älteste ist daran zerbrochen. Der Zweitälteste ist kaum zur Schule gegangen, der Drittälteste ist gesundheitlich angeschlagen, ein Kind tot. „Sie waren die Erziehungsberechtigte, sie waren verantwortlich“, sagt Richter Xaver Seitz. Solche Zustände machen etwas mit den Kindern. „Das ist eine seelisch und körperlich belastende Situation, und es ist noch nicht klar, inwieweit das die Kinder ihr Leben lang verfolgt.“ Hana H. wird zu einer Geldstrafe von 800 Euro verurteilt.

Eingestellt sind hingegen die Ermittlungen wegen des Todes des kleinen Mohammads. Der einzige Zeuge, der pakistanische Freund von Hana H., starb sechs Wochen nach dem Vorfall. Er wurde als Fußgänger von einem Auto überfahren. Das Kind der beiden, inzwischen zweieinhalb Jahre alt, lebt in einer Pflegefamilie.