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„Alle Straßenschilder zeigten in die falsche Richtung“

Es lag eine merkwürdige Spannung in der Luft am 13. August 1968, als meine Verlobte und ich den Campingplatz erreichten, wenige Kilometer vor der tschechischen Stadt Brünn, berichtet Peter Krüsmann aus Bannewitz.

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© Bettmann Archive

Es lag eine merkwürdige Spannung in der Luft am 13. August 1968, als meine Verlobte und ich abends den Campingplatz mit unserem Motorrad erreichten, wenige Kilometer vor der tschechischen Stadt Brünn. Am Lagerfeuer, beim Gespräch mit anderen Campern, gab es nur ein Thema: Wird es der Führung unter Alexander Dubcek gelingen, die sozialistischen „Bruderländer“ zu überzeugen, dass mit den Reformen in der damaligen CSSR keineswegs der Kapitalismus, sondern ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz errichtet werden sollte? Wir spürten bei unseren Gesprächspartnern, ob jung oder alt, große Hoffnung und Freude auf die kommende Zeit, aber auch Angst, dass die Führer des Warschauer Pakts sich querstellen könnten – vor allem die Hardliner, der sowjetische Staatschef Leonid Breschnew und der DDR-Politiker Walter Ulbricht.

Doch wir mussten weiter, war es uns doch nach vielen Jahren gelungen, im „Jahr des internationalen Tourismus 1968“ von den DDR-Behörden die Erlaubnis zu erhalten, unseren bulgarischen Freund Todor bei einer Privatreise in seiner Heimat zu besuchen. Wir sprachen den Camping-Freunden noch Mut zu und waren wie sie voller Hoffnung, dass die Reformen gelingen mögen. Wir hatten in den vergangenen Monaten mit glühenden Ohren im Deutschlandfunk erfahren, was in der CSSR passierte – eine Politik, in der der Begriff „Demokratie“ nicht nur Worthülse sein sollte, mit freier Meinungsäußerung, dem Zugang zu westlichen Medien, Büchern, Filmen und Musik, mit Reisefreiheit. Wir glaubten, dass dadurch vielleicht auch für uns DDR-Bürger neue Zeiten anbrechen könnten.

Bestärkt in unserer Hoffnung, dass alles gut gehen könnte, wurden wir noch durch zahlreiche Begebenheiten. Im ungarischen Szolnok etwa fuhren mehrere tschechische und ungarische Touristenbusse vorbei, die beschriftet waren mit „Viva Dubcek“. Sollte es jemand wagen, sich über des Volkes Meinung hinwegzusetzen?

Wie naiv wir waren, erfuhren wir bald. Nach einer eindrucksvollen Fahrt durch Ungarns Pußta und die rumänischen Karpaten langten wir endlich am Schwarzen Meer an. Am 21. August machten wir einen Tagestrip nach Varna. Als wir abends auf unseren Campingplatz zurückkehrten, erschreckte uns ein Bild, das wir wohl nie wieder vergessen werden. Hunderte tschechische Urlauber – die meisten in den blau-weiß gestreiften „Dubcek-Hemden“ – saßen in einem großen Kreis auf der Erde, in der Mitte ein Kofferradio. Sie erzählten uns, dass in der Nacht „der Feind in Prag einmarschiert“ sei. Es war ein Schock, auch für uns, denn nun war völlig unklar, wie sich die Rückreise gestalten würde.

Wir fuhren weiter nach Sofia und trafen unseren Freund. Von der DDR-Botschaft erfuhren wir, dass eine Rückreise durch die CSSR bis auf Weiteres nicht möglich sei. Die Alternative war eine Route durch Rumänien, die Moldauische SSR, Weißrussland und Polen. Es gab nur Achselzucken bei der Frage nach entsprechenden Reise-Valuta. Glück im Unglück: Unfallbedingt verlängerte sich unsere Reise um neun Tage. In Bukarest erneuter Anlauf bei der DDR-Botschaft. Es war ein Sonntag. Aussage dort: „Sie haben Schwein, seit heute früh fünf Uhr ist die Rückreise für DDR-Bürger einmalig möglich.“

Auch diese Fahrt ist für uns unvergesslich. In Sibiu/Hermannstadt in Rumänien „gratulierte“ uns ein seriöser älterer Herr mit den Worten: „Nun habt ihr Deutschen endlich wieder einmal einen Krieg gewonnen.“ Er hatte uns als solche ausgemacht, denn damals hatten wir stolz das „D“ am Motorrad, das Kennzeichen „DDR“ wurde erst später eingeführt. Was wir und auch der Rumäne damals nicht wussten: DDR-Soldaten waren nicht beim Einmarsch dabei, wohl aber die militärische DDR-Führung in den Stäben.

Die Rückreise durch die CSSR gestaltete sich für uns auch aus anderen Gründen schwierig. Alle Richtungsschilder für Fernziele waren zerstört oder in die falsche Richtung gedreht. Auf unsere Verwunderung erklärten uns Tschechen, dass man damit den „Invasoren“ die Orientierung erschweren wollte. Bei uns hat das geklappt. Übrigens wurde uns als Motorradbesatzung kein Härchen gekrümmt: Wenn wir nicht weiterwussten, spannte sich unaufgefordert eine Jawa davor und lotste uns durch die Stadt.

Wie unser Nachbarvolk über die „Brüderliche Hilfe“ dachte, hat sich uns unauslöschlich eingeprägt. Überall wehten schwarze Flaggen oder die Nationalfahne mit schwarzem Flor. An vielen Mauern stand der Schriftzug „1938 Hitler – 1968 Breschnew/Ulbricht“. Mit wem man auch sprach, ob Universitätsprofessor, Hausfrau oder Tankwart: Alle waren über die Ereignisse entsetzt, traurig. Viele hatten Tränen in den Augen, wohl wissend, dass der verheißungsvolle Aufbruch ein brutales Ende gefunden hatte.

Wir kauften noch einige Exemplare der deutschsprachigen, kritisch berichtenden Prager Volkszeitung, versteckten sie im Scheinwerfer und kamen relativ ungeschoren in einer regnerischen Septembernacht über die Grenze in Zinnwald.

Eine eindrucksvolle, mehr als vierwöchige Reise war zu Ende. Natürlich waren wir froh, wieder zu Hause zu sein, allerdings mit der ernüchternden Erkenntnis, dass ein Mann und seine Mitstreiter begeisternde Visionen hatten, leider 20 Jahre zu früh. Aber das wussten wir damals noch nicht. Ich hatte übrigens eins der blau-weißen Dubcek-Hemden mitgebracht, bekam allerdings Probleme, als ich es in der Öffentlichkeit trug. Ich habe es dann nur noch zu Hause angezogen.