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Zucker, mein Feind und Helfer

Florentine hat Diabetes. Um ihr eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen, geht ihre Mutter bis vor Gericht.

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© Sven Ellger

Von Henry Berndt

Volkersdorf. Hat dieses Mädchen eine Kraft! Gefühlt eine Minute lang hängt die kleine Florentine an einem Klettergerüst auf dem Spielplatz der Dresdner Uniklinik und strahlt dabei. Florentine liebt Turnen, Leichtathletik und Trampolinspringen und zeigt deswegen auch gern hier ihr Können. Man könnte meinen, sie sei eine ganz normale Achtjährige. Ist sie auch, aber eine, die es im Alltag etwas schwerer hat als ihre Spielkameraden.

Um Florentines Hüfte hängt eine Pumpe, die sie Tag und Nacht mit Insulin versorgt. Die Pumpe ersetzt die Funktion ihrer Bauchspeicheldrüse. Zu den Mahlzeiten muss die Dosis nach einer komplizierten Formel erhöht werden. Der Katheter in ihrer Bauchdecke wird aller zwei Tage gewechselt. Wie hoch ihr Blutzuckerspiegel ist, wird außerdem ständig über einen lamettaähnlichen Sensor-Faden gemessen, der in ihrem Oberarm steckt. Und nicht genug der Pikserei: Mindestens sechsmal täglich muss ihr Blutzuckerwert auch noch mit einem Stich in den Finger geprüft werden. Und das alles nur, weil Florentines Körper das lebenswichtige Insulin nicht mehr selbst produziert. Seit fünf Jahren leidet sie an Diabetes Typ I.

Zusammen mit ihrer Mutter Manuela Kissig und ihren zwei älteren gesunden Schwestern Lisa-Maria und Josefine wohnt Florentine in Volkersdorf, einem Ortsteil von Radeburg. Auch die Mutter hat Diabetes, seit sie fünf Jahre alt ist. „Wir hatten ja früher keinen Lebensstandard“, sagt die 44-Jährige. In ihrer Kindheit in der DDR hielt sie die Krankheit geheim, musste sich ständig selbst spritzen. „Auf gut Glück“, wie sie sagt. Blutzuckertests gab es noch nicht. Die Insulinpumpe macht nun auch für sie vieles einfacher. Seit 1994 hat sie die. Florentine trägt ihre schon seit der Diagnose und seit zwei Jahren unterstützend das Gerät zur kontinuierlichen Glukosemessung.

Aus eigener Erfahrung weiß Manuela Kissig, welch lebenslanger Kampf ihrer Tochter bevorstehen wird. Es ist weniger der Kampf mit ihrem Körper. Florentine kann fast alles essen und alles machen. Es ist mehr der Kampf mit der Gesellschaft, mit den Behörden und den Krankenkassen.

„Diabetes Typ I wird oft mit Typ 2 gleichgesetzt“, sagt die Mutter. „Dabei ist das eine Erkrankung, die jeden treffen kann, völlig unabhängig von der Ernährungsweise und dem Alter.“ Bei anderen chronischen Krankheiten könne man sich dem Verständnis und der Hilfe anderer sicher sein, doch Diabetes gelte allgemein noch immer als weniger gravierend und selbst verschuldet.

Schiefermappe mit Gummibärchen

Vor wenigen Tagen kam Florentine in die dritte Klasse. In den ersten beiden Schuljahren hatte sie in der Schule und im Hort eine Integrationshelferin an ihrer Seite, die sofort zur Stelle war, wenn es Florentine nicht gut ging oder der Sensor Alarm gab. Bei Kindern mit Diabetes schwanken die Blutzuckerwerte stark. Das hängt längst nicht nur mit dem Essen zusammen. Auch Bewegung und sogar Gefühle wie Angst und Freude beeinflussen die Werte. „Sie können jederzeit in den Keller gehen oder nach oben schießen“, sagt Manuela Kissig. „Das ist nicht vorhersehbar und gefährlich.“ Für den Notfall einer Unterzuckerung hat Florentine deswegen immer eine schwarze Schiefermappe voller Traubenzucker und Gummibärchen dabei. Sie darf auch im Unterricht essen, versucht das aber zu vermeiden.

Ihre Mutter war immer beruhigt, dass Florentine den ganzen Schultag über eine Betreuung an ihrer Seite hatte. Nun aber ist es damit vorbei. Die Krankenkasse weigert sich, länger für die Integrationshelferin zu zahlen. Da auch die Schule sich außerstande sieht, eine Hilfe bereitzustellen, ist Manuela Kissig ratlos. An den ersten Schultagen setzte sie sich in ihrer Not selbst zu ihrer Tochter in den Unterricht, doch auf Dauer ist das keine Lösung für sie. „So, wie es jetzt aussieht, kann Florentine nicht mehr jeden Tag in die Schule gehen“, sagt sie. Doch ganz so schnell aufgeben will sie nicht. Mithilfe eines Anwalts wehrt sie sich. „Im Sinne des Kindeswohls“ will sie gerichtlich durchsetzen, dass die Kosten für die Integrationshelferin wieder übernommen werden. Die Entscheidung steht noch aus. „Es kann doch nicht sein, dass Florentine jetzt auf eine Förderschule oder Behindertenschule gehen muss, bloß weil sie Diabetes hat.“

Dass die Achtjährige nun schon selbst die Verantwortung dafür tragen soll, Kohlenhydrate und Insulinmengen richtig zu berechnen und das Gerät zu bedienen, ist für ihre Mutter nicht denkbar. „Sie soll noch ein bisschen Kind sein dürfen und sich nicht mit Berechnungen rumschlagen“, sagt sie.

Die Kämpfe mit den Behörden zehren die Mutter aus. „Eigentlich bräuchte ich die Kraft für Flo.“ Doch immer wieder ist ihre Durchsetzungsfähigkeit gefragt. Das ging schon los, als Florentine in den Kindergarten kam. Trotz gültigen Vertrages durfte sie anfangs nicht in die Einrichtung, da die Erzieher nicht wussten, wie sie mit ihrer Erkrankung umgehen sollen. Schon damals musste Manuela Kissig mit einem Anwalt drohen, bis sich ein Weg fand.

In der Schule gingen die Probleme weiter. Die Schwimmlehrerin habe sie einmal nicht ins Wasser gelassen und vor Florentine davon gesprochen, dass sie doch untergehen könnte, wenn ihr Blutzuckerwert außer Kontrolle gerät. „Das kann man doch einem Kind nicht so sagen.“

Neuer Mut dank Zuckerkids

Nach einigen schlechten Erfahrungen wie dieser fällt es Florentine inzwischen schwer, Vertrauen zu fremden Erwachsenen aufzubauen. Mit dem Mann von der Sächsischen Zeitung redet sie kein Wort. Auch die Ärzte haben es oft schwer, zu ihr durchzudringen.

Alle zehn bis zwölf Wochen hat sie einen Termin in der Dresdner Uniklinik. Hier lernte die Familie eine Beraterin kennen, die sie auf die Selbsthilfegruppe „Zuckerkids“ aufmerksam machte. Der Verein bringt Kinder und Jugendliche zusammen, die von Diabetes betroffen sind. „Das war ein wahrer Glückstreffer für uns“, sagt Manuela Kissig. „Es ist für die Kinder so wichtig zu sehen, dass es auch anderen so geht.“ Egal, ob Fußballturnier, Kinderfest, Bowling oder Weihnachtsbacken – Florentine ist bei allen Unternehmungen dabei und blüht immer mehr auf. Nicht nur auf dem Spielplatz.

Am 28. August um 14 Uhr trifft sich die Selbsthilfegruppe „Zuckerkids“ zu einer Schnitzeljagd mit Picknick am Mosaikbrunnen im Großen Garten.

www.diabetiker-sachsen.de