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Wut ist verlängerter Arm der Angst

Sind Ältere aggressiver als Jüngere? Nach dem „Fall Arnsdorf“ sprach die SZ mit Psychotherapeut Dr.  Hartmut Kirschner.

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© Thorsten Eckert

Von Jens Fritzsche

Arnsdorf. Der Fall hatte für Aufsehen gesorgt. In Arnsdorf hatte ein Rentner eine Warteschlange an einer Saft-Firma ignoriert und war mit seinem Auto einfach an allen Wartenden vorbeigefahren. Ein Mann, der sich ihm in den Weg stellte, bezahlte das mit seinem Leben. Der Rentner – der zuvor schon durch Aggressivität aufgefallen war – fuhr ihn einfach um. Der Radeberger Psychotherapeut Dr. Hartmut Kirschner hatte in seiner langjährigen Praxis immer wieder mit Aggressionen zu tun, betreibt heute ehrenamtlich eine Suizidberatung, in der er oft mit scheinbarer Ausweglosigkeit bei Patienten in Berührung kommt, die zu für Außenstehende oft unerklärlichen Reaktionen führt. Die SZ sprach mit ihm. Über den Fall Arnsdorf, aber auch über die Frage, ob ältere Menschen aggressiver sind als jüngere.

Herr Dr. Kirschner, können Sie sich erklären, was in dem 74-jährigen Rentner in Arnsdorf vorgegangen ist, dass er einen Menschen umfährt?

In solchen Fällen wird ja immer sehr viel spekuliert. Das sieht man ja auch aktuell am Fall des Sängers Daniel Küblböck, der offenbar von einem Luxusschiff gesprungen ist, um Selbstmord zu begehen. Ich denke aber, es verbietet sich, zu spekulieren. Und zwar in beiden Fällen.

Im Zusammenhang mit dem Fall in Arnsdorf kam die Frage auf, ob ältere Menschen in Stresssituationen besonders schnell mit Aggressivität reagieren? Es gibt ja auch in der Literatur die Figur des oder der „boshaften Alten“ …

Ich bin natürlich nicht der Fachmann, der erklären kann, ob und wenn ja welche Veränderungen im Gehirn mit zunehmendem Alter stattfinden, die vielleicht Stimmungen stärker in eine bestimmte Richtung ausschlagen lassen. Aber aus meiner Praxis als Psychotherapeut weiß ich, dass beispielsweise Männer im höheren Alter die Gruppe stellen, die am stärksten suizidgefährdet ist. Was natürlich mit sehr vielen Faktoren zusammenhängt. Mit der Rolle der Männer in der Gesellschaft zum Beispiel, immer stark sein zu müssen, was im Alter schwieriger wird. Dennoch habe ich vor allem Patienten im mittleren Alter.

Wir reden ja häufig vom zunehmenden Leistungsdruck, der Menschen krank macht oder auch aggressiv. Aber haben denn  ältere Menschen tatsächlich noch diesen Leistungsdruck wie jüngere?

Wir dürfen generell die Lage der älteren Menschen in unserem Land nicht zu rosig sehen. Es gibt sehr, sehr viele Rentner, die von ihrer Rente nicht leben können und deshalb noch immer arbeiten gehen. Natürlich stehen sie dort unter Leistungsdruck. Nicht zuletzt in einer Art Wettstreit mit jüngeren Kollegen. Das ist nicht zu unterschätzen. Und natürlich geht es auch um eine gefühlt oder real fehlende Wertschätzung von Älteren in der Gesellschaft.

Das macht wütend?

Wut ist sozusagen der verlängerte Arm der Angst. Oder von seelischer Unsicherheit. Man kann aus schwierigen Situationen fliehen oder eben versuchen, mit Aggressivität darauf zu reagieren. Wenn ein gefährlicher Hund angreift, kann man wegrennen oder sich ihm wütend und aggressiv in den Weg stellen. Wenn sich zu viel Angst oder Unsicherheit anstaut, kann es irgendwann zu einem Wutausbruch kommen. Vielleicht auch zu solchen von außen gesehen fast unerklärlichen Vorfällen wie in Arnsdorf – aber wie gesagt, ich will nicht spekulieren.

Lässt sich mit Angst auch die wachsende Verrohung in der Sprache und im Umgang miteinander erklären?

Ich denke schon. Wie gesagt: Wut ist eine Art Versuch, mit Ängsten klarzukommen.

Wie kann man denn verhindern, dass aus seelischer Not Wut, Aggression oder gar Suizidgedanken werden?

Man sollte den Mut haben, sich in fachliche Hände zu begeben. Aber auch das Umfeld könnte eine Menge tun. Doch dazu fehlt es oft am Wissen. Was eigentlich leicht vermittelbar wäre.

Was meinen Sie damit?

Wer eine Fahrschule besuchen will, braucht zuvor eine Ausbildung in Erster Hilfe in medizinischen Notfällen. Das ist Pflicht. Für den seelischen Bereich gibt es eine solche Ausbildung leider nicht. Aber wenn es mehr Sensibilität oder Rücksicht gebe, wäre schon viel geholfen. Darauf müsste man in kleinen Pflicht-Schulungen hinweisen. Am besten schon in der Schule.

Sie sprachen gerade auch von fachlicher Hilfe. Wie funktioniert die?

Die beste Hilfe ist eine Kombination aus den drei Säulen: der medikamentösen Hilfe, dem Erlernen von Entspannungstechniken und therapeutischen Gesprächen. Aber viele haben leider Vorurteile und fürchten, sie werden von Ärzten „nur mit Pillen vollgestopft“, die sie ruhig stellen sollen. Das ist natürlich Unsinn. Leider sind diese Vorurteile gerade bei älteren Menschen stark verhaftet. Auch, wenn es in den letzten Jahren eine positive Entwicklung gegeben hat: Auch bei Älteren ist die Bereitschaft gestiegen, sich auf Therapien –  vor allem Gesprächstherapien – einzulassen.

Was passiert in Ihren Krisengesprächen?

Ich versuche, auf die Symptome des Patienten einzugehen. Wir versuchen gemeinsam, im Gespräch herauszuarbeiten, wo ein nächster sinnvoller Schritt liegen könnte, am meisten sollen suizidale Gedanken oder Pläne verhindert werden. Wichtig ist es, dass die Betroffenen verstehen, dass Depressionen heilbare Erkrankungen sind.

Man könnte zur Meinung gelangen, psychische Erkrankungen haben stark zugenommen. Liegt das am gestiegenen Druck in der Gesellschaft oder wissen wir alle heute einfach viel besser über solche Erkrankungen Bescheid?

Sowohl als auch. Natürlich hat der Leistungsdruck auf uns alle massiv zugenommen, keine Frage. Aber auch die Kenntnisse über seelische Erkrankungen haben zugenommen – die Forschung ist viel weiter gekommen, aber die Menschen sind auch viel aufgeklärter, was Krankheiten betrifft. Auch seelische Krankheiten. Deshalb taucht das Thema einfach viel häufiger auf als noch vor Jahren.

Mitunter macht ein Vorurteil die Runde: Das Burn-out-Syndrom sei eine Modekrankheit, die es vor einigen Jahren noch gar nicht gegeben habe …

Das Burn-out-Syndrom ist keine Krankheit im engeren Sinn, sondern in der Regel liegt eine depressive Erkrankung vor. Nicht selten in Mischformen mit Angststörungen. Depressionen hat es als solche immer gegeben. Leider auch im Kindes- und Jugendalter. Doch noch einmal: Depressionen sind heilbar. Aber natürlich ist es wichtig, auch mal innerlich zur Ruhe zu kommen, nicht nur auf der Überholspur zu fahren.