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„Wir wissen von 13 obdachlosen Kindern“

Sozialbürgermeisterin Kristin Kaufmann über die steigende Zahl der Wohnungslosen und was die Stadt dagegen tun will.

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© Sven Ellger/Marion Döring

Frau Kaufmann, in Berlin machte gerade ein Anschlag auf Obdachlose Schlagzeilen, sind Ihnen solche Fälle auch aus Dresden bekannt?

Ich bin schockiert über diese menschenverachtende Tat. Aus Dresden sind mir solche Taten gegen wehrlose Menschen nicht bekannt.

In der Stadt sind derzeit vermehrt Obdachlose zu sehen. Laut freien Trägern und Stadt steigen die Zahlen, aber sie unterscheiden sich. Von wie vielen Obdachlosen geht die Verwaltung aus?

Die Zahlen von freien Trägern und der Stadt gehen auseinander, das stimmt. Das liegt daran, dass wir nur mit den offiziellen Zahlen arbeiten. Unsere Statistik zählt nur jene Menschen, die sich aufgrund ihrer Wohnungslosigkeit gemeldet haben und in unseren Heimen und Gewährleistungswohnungen untergebracht wurden.

Und was heißt das konkret?

Wir gehen Stand Ende Juli 2018 von 313 wohnungslosen Menschen aus. Die freien Träger sprechen von rund 1 000 Menschen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind und in Kontakt- und Beratungsstellen Hilfsangebote wahrnehmen. Diese Personen sprechen nicht automatisch auch im Jobcenter oder dem Sozialamt vor, um Leistungen und Unterstützung zu erhalten. Insofern differieren die Zahlen stark, nicht nur in Dresden.

Immer wieder geraten die bettelnden Familien in den Fokus, inwieweit gibt es Überschneidungen?

Dazu liegen uns keine Erkenntnisse vor. Fakt ist, dass vom Betteln keiner leben sollte, es zudem unsere Aufgabe ist, Personen in ungesicherten finanziellen Verhältnissen zu unterstützen.

Aber der Anteil der nicht deutschen Staatsangehörigen unter den Obdachlosen steigt an?

Aktuell gehen wir von 37 Personen aus, die nicht aus Deutschland kommen, das ist ein Anteil von zwölf Prozent. Sie kommen aus Syrien, der Russischen Föderation, dem Irak, Rumänien oder Bulgarien.

Sind Kinder unter den Obdachlosen?

Wir wissen derzeit von 13 Kindern.

Sie reagieren auf die steigenden Zahlen mit einem neuen Wohnungslosen-Konzept. Darin planen Sie ein Übernachtungshaus. Freie Träger sehen darin eine Stigmatisierung. Was sagen Sie?

Ich kann die Kritik an einer zusätzlichen Übernachtungsstätte nicht nachvollziehen, da wir auf Prävention setzen und ganz bestimmt niemanden diskriminieren wollen. Stellen Sie sich ein Nachtcafé vor, welches das ganze Jahr über offen ist. Nichts anderes schlagen wir vor. Es ist ein weiteres niederschwelliges Angebot mit 20 Plätzen. Hier sollen sich die Wohnungslosen duschen können, Wäsche waschen und für eine Nacht einen Schutzraum haben.

Bei über 300 Obdachlosen, sind da 20 Plätze nicht zu wenig?

Nein, da besagte 313 wohnungslose Personen bereits durch uns untergebracht wurden. Wir wollen bewusst nur 20 Plätze schaffen, um eine konfliktarme Atmosphäre zu erhalten. Ziel ist Menschen zu erreichen, die ansonsten im Freien nächtigen, da sie beispielsweise die Regeln unserer anderen Häuser als zu streng empfinden.

Gibt es schon einen Standort dafür und einen konkreten Startzeitpunkt?

Es gibt noch keinen Standort und keinen konkreten Start.

Das Übernachtungshaus ist nur in der Zeit von 20 Uhr bis 8 Uhr morgens offen, wer kümmert sich tagsüber um die Menschen?

Wir wollen in fußläufiger Nähe einen Tagestreff etablieren oder einen bereits vorhandenen nutzen, wo Sozialarbeiter mit den wohnungslosen Menschen arbeiten und es eine Versorgung gibt.

Sollen über das Übernachtungshaus hinaus noch zusätzliche Wohnungen angemietet werden?

Aktuell haben wir 16 Gewährleistungswohnungen mit 32 Plätzen. Demnächst sollen zehn Wohnungen, die für Asylbewerber angemietet wurden, für Wohnungslose umgewidmet werden. Bleiben die Zugangszahlen im Asylbereich weiterhin rückläufig, wollen wir dies auch 2019 und 2020 fortsetzen.

Die Stadt plant jetzt auch mit dem Housing-First-Ansatz aus den USA, der vereinfacht gesagt auf „erst eine Wohnung, dann findet sich alles“ setzt. Wie hoch sind die Erfolgsaussichten?

Nicht nur dort wird das Konzept gelebt. Städte wie Hamburg und Zürich arbeiten bereits damit. Ich sehe darin eine ganz neue Chance. Hat ein Mensch erst einmal wieder eine eigene Wohnung, einen eigenen Raum, kann das der Motor sein, die übrigen Probleme fast wie von allein in Angriff zu nehmen.

Ist es realistisch, dass sich Probleme wie Sucht, Schulden oder psychische Erkrankungen von allein lösen?

Natürlich geben wir den Menschen nicht nur einen Wohnungsschlüssel und überlassen Sie dann ihrem Schicksal. Wir werden sie weiterhin mit sozialpädagogischen Angeboten unterstützen. Ich bin jedoch überzeugt, dass der Weg zurück in den Alltag mit einer eigenen Wohnung leichter wird.

Steigende Mieten und sinkender Leerstand sind auch Ursachen für Obdachlosigkeit. Warum nutzen Sie nicht die 800 Wohnungen, die die WID bauen will?

Diese werden wir auch in Teilen dafür nutzen.

Mit Blick auf den Winter: Ist aufgrund der steigenden Zahlen ein Ausbau des Nachtcafé-Angebots oder eine Aufstockung der Förderung geplant?

Der Stadtrat hat auch deshalb beschlossen, dass die Nachtcafés jeweils bis zu 10 000 Euro Sachkosten-Förderung beispielsweise für Waschmaschine und Geschirr beantragen können. Jede Saison bin ich vor Ort und weiß, dass diese Unterstützung den Nachtcafés helfen wird. Es freut mich, dass die acht Kirchgemeinden jeden Wochentag absichern und somit unsere Hilfsangebote ergänzen. Die Notwendigkeit eines Ausbaus sehe ich nicht. Die Ehrenamtler leisten super Arbeit.

Apropos Ehrenamtler: Wie stehen Sie zu dem umstrittenen Verein Dresdner Bürger helfen Dresdner Obdachlosen, der nur Deutschen helfen will?

Ich sehe das kritisch und lehne diesen selektiven Ansatz der Unterstützung für ausgewählte Bevölkerungsteile ab. Der Verein wird seitens der Stadt nicht gefördert und es gibt keine Beziehungen.

Das Interview führte Julia Vollmer.