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„Wir sind ein Ort der Toleranz“

Seit 20 Jahren bringt das Ost-West-Forum Menschen zusammen, die Unterschiedliches erlebt haben. Verständnis zu wecken, bleibt weiter Aufgabe.

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© André Braun

Döbeln. Zusammenwachsen. Weiterdenken. Das sind die Ziele, mit denen das Ost-West-Forum 1998 als unabhängiger und überparteilicher Bürgerverein gegründet wurde. Es geht um die Verständigung zwischen den Teilen Deutschlands und um ein besseres Verständnis für aktuelle und historische Hintergründe, politische und wirtschaftliche Sichtweisen. Der Döbelner Anzeiger sprach mit dem Vereinsvorsitzenden Axel Schmidt-Gödelitz.

Herr Schmidt-Gödelitz, wie ist die Idee entstanden, ein solches Forum zu gründen?

Nach der Wende hat die Familie das Grundstück und die Gebäude des Gutes, die nach dem Krieg enteignet wurden, zurückgekauft. Damals hat unsere Mutter, Johanna Schmidt-Gödelitz, die von vielen, die sie kennen, liebevoll Mami genannt wurde, uns vier Kinder zusammen gerufen. Sie sagte damals: „Auf uns hat hier niemand gewartet. Wir müssen uns einfädeln, um von den Menschen in der Region angenommen zu werden.“ Mami forderte vor allem mich auf, der bereits viele Erfahrungen in der Politik gesammelt hatte, etwas zu unternehmen, damit die Leute nicht annehmen, dass die Familie zurückgekommen ist, um dort weitermachen, wo sie 1945 aufgehört hat. Das war 1990/91. Ich arbeitete bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Nebenbei bauten wir das Gut Stück für Stück wieder auf. Wir hatten es zum einen leicht, von den Menschen angenommen zu werden, weil wir nicht reich waren. Dafür war es umso schwerer, die Finanzen für die Sanierung der Gebäude aufzubringen.

Der Verein wurde mit Freunden aus Ost und West gegründet. Es waren am Anfang etwa 20 Mitglieder. Wann hat es die erste Veranstaltung gegeben?

Das war im Januar 2000. Referent war Hans-Otto Bräutigam, langjähriger Leiter unserer Ständigen Vertretung in der DDR. Er hat über die deutsch-deutsche Beziehung in der Zeit der Teilung aus Sicht eines Westdeutschen gesprochen. Einen Monat später war Herbert Häber zu Gast, Anfang der 1980er-Jahre kurzzeitig Mitglied des Politbüros der SED, der uns seine Eindrücke aus DDR-Sicht schilderte. Damals saßen die Interessierten noch im Speisezimmer im Gutshaus. Dann wurden es immer mehr, die sich für Veranstaltungen des Ost-West-Forums interessierten. Manchmal waren es mehr als 100 Gäste. Die passten nicht mehr ins Speisezimmer. Sie saßen teilweise auf der Treppe und standen im Flur.

Sie stießen an die Kapazitätsgrenze.

Ja, als dann Georg Milbradt zu Gast war, meldeten sich mehr als 150 Leute an. „Wir mussten einen anderen Veranstaltungsort finden, zogen in die Scheune. Zuvor mussten die Löcher im Dach geflickt und irgendwie Licht und Luft in das Gebäude reinkommen. Es war meiner Mutter zu verdanken, dass das alles bis zum Besuch von Milbradt fertig war. Sie konnte wirklich jeden überzeugen, hatte aber auch für jeden Verständnis und konnte zuhören – gleich, ob es der Gärtner oder ein hochrangiger Politiker waren. Nach der Veranstaltung in der Scheune war klar, wir müssen die alte, zerfallene Schäferei als Seminar- und Konferenzraum ausbauen. Wir bekamen Fördergeld und viele private Spenden. Immerhin waren das mehr als 400 000 Euro. Ohne die wäre vieles nicht möglich gewesen. Ein Glück war es auch, dass ein Vorstand die Bauleitung übernommen hat. Überhaupt ist es so, dass sich immer wieder Menschen finden, die sich bei uns einbringen und mit uns kämpfen. Eingeweiht wurde der Seminar- und Konferenzraum 2006.

Jeden Monat gelingt es Ihnen, namhafte Referenten zu gewinnen, die über Wirtschaft, Globalisierung, Friedenspolitik, Wissenschaft und Kultur sprechen. Wie schaffen Sie es, die Experten zu einem Redebeitrag in Gödelitz zu überzeugen?

Ich kenne fast alle Referenten persönlich. Ich war lange in der Politik tätig und organisierte von 1990 bis 2006 Gesprächskreise bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. Vor allem die Menschen, die mich beeindruckt haben, habe ich nicht aus den Augen verloren. In den zehn bis 15 Jahren baute ich mir ein Netzwerk auf, das ich auch pflege und auf das ich zurückgreifen kann. Wichtig ist, dass wir unabhängig und unparteiisch sind. Unser Ankerpunkt ist das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.

Unter dem Dach des Ost-West-Forums gibt es weitere Veranstaltungsreihen, die das Ziel der Verständigung und des Verständnisses von Menschen aus verschiedenen Regionen und Ländern noch tiefer untermauern. Welche sind das?

Das sind die zuerst einmal die deutsch-deutschen Biografiegespräche. Die gibt es schon seit 1992. Sie wurden in der Friedrich-Ebert-Stiftung begonnen und später vom Ost-West-Forum übernommen. An einem Wochenende treffen sich immer zehn Leute, fünf aus dem Osten und fünf aus dem Westen, die sich ihre Lebensgeschichten erzählen. Dabei werden Vorurteile abgebaut und Verständnis aufgebaut. Mehr als 3 000 Menschen haben an diesen Gesprächen bereits teilgenommen. Weiterhin organisieren wir deutschlandweit die deutsch-türkischen Biografierunden und mittlerweile auch die mit Migranten und Flüchtlingen. Eines unserer wichtigsten Projekte ist die Werteakademie. Es geht darum, eine neue, junge Werte-Elite aufzubauen, die beruflich erfolgreich ist, sich aber gleichzeitig ihrer Verpflichtungen dieser Gesellschaft gegenüber bewusst ist. Es geht um die Werte, die im sozialen, demokratischen Rechtsstaat, im Menschenrechtskatalog und in den Umweltschutzverpflichtungen verankert sind.

Der Bürgerverein arbeitet nicht nur in Deutschland. Er ist auch international unterwegs. Können Sie diese Projekte kurz vorstellen?

Das Deutsch-Polnische Forum ist ein Partnerschaftsprojekt zwischen dem Ost-West-Forum, der Universität Warschau und der Humanistischen Akademie „Aleksander Gieysztor“ in Pultusk. Anfang September 2005 wurde es auf Gut Gödelitz gegründet. Ziel war und ist, das Verhältnis zwischen beiden Völkern zu verbessern, indem mehr Kenntnisse über das jeweils andere Land vermittelt, Vorurteile abgebaut und institutionelle und persönliche Kontakte aufgebaut werden. Außerdem wollen wir unsere Erfahrungen, die wir bei der Wiedervereinigung von Deutschland gesammelt haben, an die Menschen in Südkorea weitergeben. Mit Seminaren für südkoreanische Regierungsdelegationen und Vorträgen von mir in Südkorea unterstützt der Verein die Wiedervereinigungsprozesse. Auch das Gödelitzer Modell der Biografiegespräche findet sich in Korea wieder: Den Austausch gibt es zwischen Südkoreanern und Flüchtlingen aus Nordkorea. So soll die Verständigung zwischen denen, die im freien Südkorea aufgewachsen sind und denen, die in einem Staat, der ihnen seit der Geburt vorgeschrieben hat, was sie zu tun und zu denken haben, erleichtert werden. Das soll auch eine Vorbereitung für den Fall sein, dass eines Tages beide Teile Koreas wiedervereinigt werden.

Wie soll das 20-jährige Bestehen des Ost-West-Forums begangen werden?

Die Vorbereitungen dafür liegen in den Händen des langjährigen Vorstandsmitgliedes Professor Wendelin Szalai. Wahrscheinlich wird es eine Podiumsdiskussion zum Thema Toleranz geben. Denn wir sind ein Ort der Toleranz mit einem klaren Menschen- und Gesellschaftsbild. Außerdem ist eine Ausstellung von Bildern eines Fotografen geplant, der den Verein von Beginn an begleitet hat. Wann die Veranstaltung ist, steht noch nicht fest.

Sie hatten zu Beginn des Gespräches erwähnt, dass Ihre Mutter diejenige war, die die ersten Gedanken zu den nun deutschlandweit etablierten Forum hatte. Wenn sie noch lebte, was glauben Sie, hätte sie Ihnen zu sagen?

Ganz sicher würde sie sagen, das habt ihr gut gemacht. Allerdings würde sie das bisher Erreichte wohl auch, wie wir, nur als eine Zwischenstation sehen. In der heutigen Zeit ist es notwendiger denn je, sich für die Werte des Grundgesetzes einzusetzen. Mami würde sagen: Macht weiter so!

Es fragte: Sylvia Jentzsch