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Wie sozial ist die Marktwirtschaft noch?

Die Wirtschaft steckt mitten in großen Umbrüchen. Wie lässt sich das Erfolgsmodell von einst in die Zukunft führen?

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© dpa/Kay Nietfeld

Von Andreas Hoenig

Wohlstand für alle. Das war der populäre Slogan von Ludwig Erhard, dem Vater der Sozialen Marktwirtschaft, dem Wegbereiter des „Wirtschaftswunders“ nach dem Krieg. Mit großem Bahnhof feiert die Bundesregierung an diesem Freitag das 70-jährige Jubiläum des bundesdeutschen Erfolgsmodells. Gerade in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung mit historischen Umbrüchen beschwört die Politik die vertraute Formel und will die Soziale Marktwirtschaft in eine neue Zeit führen. Doch wie genau?

Vielen Menschen ist nicht zum Feiern zumute. Berlin-Reinickendorf, Auguste-Viktoria-Allee. Das hier sei ein „Problemkiez“, sagt Ingrid Winterhager. Viele Hartz-IV Empfänger leben dort, viele Migranten. Vor der evangelischen Segenskirche, einem roten Ziegelbau, laden Helfer der Berliner Tafel „Laib und Seele“ einen Mietwagen aus, voll mit Obst und Gemüse, mit Brot, Wurst und Käse. Es sind Spenden von Supermärkten, Essen, das aussortiert wurde, Waren, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Vorm Seiteneingang warten bereits die ersten Kunden, wie sie hier genannt werden – Frauen und Männer jeden Alters, Familien mit Kindern. Einmal pro Woche können sie sich hier versorgen, für 1,50 Euro pro Haushalt.

Die Nachfrage sei in den vergangenen Jahren gestiegen, sagt Gemeindepädagogin Winterhager (61). „Für viele Leute, die zum ersten mal kommen, ist das eine Riesenüberwindung, manche haben Tränen in den Augen.“ Michael Oberländer (58) ist schwerbehindert und muss mit noch nicht mal 400 Euro im Monat auskommen, wie er erzählt. Ohne Tafel wäre er ziemlich aufgeschmissen. „Die Politik lässt uns hängen.“ Ein 54-jähriger Helfer der Tafel, der wie alle ehrenamtlich arbeitet, wird noch deutlicher: „Die oberen Zehntausend haben alles, die Mittelschicht geht kaputt, und wir hier haben den Rest.“

„Der Rest“ – das ist eine ziemlich harte Formulierung. Aber genau so fühlen sich wohl viele, die Hartz IV beziehen, von der Politik im Stich gelassen. Sie sehen keine Perspektive mehr. Und die Angst vor der Zukunft scheint sich in die Mittelschicht zu fressen. In Großstädten finden viele keine bezahlbare Wohnung mehr, viele haben wegen des digitalen Wandels Sorgen vor dem Jobverlust. Dabei geht die deutsche Wirtschaft ins neunte Wachstumsjahr. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken, die Einkommen steigen schneller als die Inflation.

Aber kommt der Aufschwung bei allen an? „Wenn man sich Deutschland im Jahr 2018 anschaut, dann stellt man fest, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft und dass der soziale Sprengstoff zunimmt“, sagt der Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge. Der 67-Jährige zählt aus seiner Sicht die Sünden der Vergangenheit auf: Deregulierung des Arbeitsmarktes, Agenda 2010 und Hartz-Gesetze, Lockerung des Kündigungsschutzes. Mini-Jobs und ein breiter Niedriglohnsektor. Und auf der anderen Seite seien Kapital- und Gewinnsteuern entweder abgeschafft oder gesenkt worden. „Soziale Marktwirtschaft heißt für mich, dass alle am Wirtschaftsprozess Beteiligten auch an den Erträgen beteiligt werden.“ Die Soziale Marktwirtschaft dürfe kein „Kosename“ für einen neoliberalen Finanzmarktkapitalismus sein.

„Die zentralen Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft waren, soziale Sicherheit zu bieten und dafür zu sorgen, dass es eine Gleichheit gibt“, sagt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. „Das heißt, dass die Gesellschaft nicht auseinanderfällt, dass alle mitgenommen werden. Wenn man sich aber die Entwicklung anschaut, muss man feststellen, dass dieses Versprechen spätestens seit der Jahrtausendwende nicht mehr eingehalten wird.“

Diese Generalkritik teilt Michael Hüther nicht. „Es stimmt nicht, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich fortlaufend vergrößert hat und die Mittelschicht anhaltend schrumpft“, sagt der Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft. Die Soziale Marktwirtschaft sei in einem höchst erstaunlichen Maß sozial. „Wir haben eine Erwerbsbeteiligung von 80 Prozent – so hoch wie noch nie. Das ist das eigentliche Leistungsversprechen der Sozialen Marktwirtschaft. Außerdem sind die Reallöhne in den vergangenen Jahren gestiegen, die Einkommen sind mehr als stabil.“ Doch auch Hüther sieht Handlungsbedarf – in der Integration von Langzeitarbeitslosen, in der Pflege oder bei den Lebensbedingungen von Alleinerziehenden. In einer Phase von Globalisierung und Digitalisierung mit wachsender Konkurrenz aus China und Handelskonflikten mit den USA stelle sich die Frage: „Wie kann eine sozial verpflichtete Wirtschaftsordnung in dieser Globalisierung funktionieren?“

Ein Wort, das immer häufiger zu hören ist, ist „disruptiv“. Es meint: Die digitale Revolution hat in einer globalisierten Welt das Zeug, ganze Branchen radikal zu verändern. In der „Industrie 4.0“ übernehmen immer mehr Roboter Arbeiten. Künstliche Intelligenz heißt das Schlagwort. Vielen Menschen macht das Angst. „Die Globalisierung hat zu mehr Wohlstand geführt. Aber natürlich ist das jenen Menschen schwer vermittelbar, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben““, sagt Dieter Kempf, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie. „Die Wirtschaft hat eine gesellschaftliche Verantwortung.“ Die Soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard müsse modernisiert werde. „Die Wirtschaft muss deutlicher machen, welche gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen wirtschaftliches Handeln hat.“

Auch die Koalition will gegensteuern – schon aus Sorge, weitere Wähler an die rechtspopulistische AfD zu verlieren. Im Bundestagswahlkampf seien Sorgen und Zukunftsängste der Menschen nicht ernst genug genommen worden, so die Analysen in den Parteizentralen. „Die Digitalisierung verändert die Spielregeln des Kapitalismus“, sagte SPD-Chef Andrea Nahles. „Mit den Regeln der Sozialen Marktwirtschaft haben wir dafür gesorgt, dass der Wohlstandsgewinn auch allen zu Gute kam, dass die großen Lebensrisiken abgesichert waren, und dass Aufstieg durch Bildung unabhängig von Geschlecht, Klasse oder Herkunft möglich war. Dieses Modell ist in der Krise.“ Nahles erwähnt neue Technologien und massive Veränderungen in Produktionsweisen. Der „digitale Kapitalismus“ brauche neue Regeln.

Es könnte ein schwieriger Weg werden. Bei der Tafel jedenfalls sei noch kein Politiker aufgetaucht, sagt Winterhager: „Wir sind ein Sozialstaat, jeder wird mit dem Nötigsten versorgt. Aber ich bin traurig, dass die Tafel notwendig ist.“ (dpa)