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Wie kann man schwierigen Familien helfen?

Der Fall einer überforderten Mutter hat Freital erschüttert. Zwei Sozialpädagogen suchen im Gespräch nach Lösungen.

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© Karl-Ludwig Oberthür

Von Annett Heyse

Freital. Dieser Fall, der kürzlich vor dem Amtsgericht in Dippoldiswalde verhandelt wurde, war auch für den Richter und die anwesenden Schöffen kaum zu glauben: Eine Mutter, mit Haushalt und Erziehung völlig überfordert, überlässt ihre Kinder sich selbst. Ein Sohn im Grundschulalter geht nicht zum Unterricht. Dessen jüngerer Bruder, nicht in der Kita angemeldet, hat ein verfaultes Gebiss. Die beiden lungern oft stundenlang alleine zu Hause herum und müssen auf den Jüngsten aufpassen, der gerade mal zwei Jahre alt ist. Der Kühlschrank ist leer, zu Trinken gibt es nichts. Die Mutter bummelt derweil durch Dresden. Als die Kinder aus Langeweile Blödsinn im Haus treiben, rufen Nachbarn schließlich die Polizei, das Jugendamt wird eingeschaltet. Drei Wochen später verstirbt der jüngste Bruder nach einem Unfall im Haushalt, die genauen Umstände konnten bisher nicht aufgeklärt werden. Mitten in Freital verwahrlosen drei Kinder und keiner hat es mitbekommen. Dabei gibt es viele Beratungsstellen, Hilfsangebote, Sozialarbeiter und das Jugendamt. Warum hat das soziale Netzwerk nicht funktioniert und was hätte man tun können? Darüber sprach die SZ mit Simone Lehmann und Claudia Rudolph, Sozialpädagogen beim Kinder- und Jugendhilfeverbund Freital.

Die SZ berichtete am 13. Juni über den Gerichtsprozess. Die Mutter wurde zu einer Geldstrafe von 800 Euro wegen Verletzung der Fürsorgepflicht verurteilt.
Die SZ berichtete am 13. Juni über den Gerichtsprozess. Die Mutter wurde zu einer Geldstrafe von 800 Euro wegen Verletzung der Fürsorgepflicht verurteilt. © Repro/SZ

Haben Sie schon einmal von solch einem Fall gehört?

Lehmann: Das ist ein wirklich tragischer Fall. Dass jemand so durch sämtliche Löcher rutscht, ist ungewöhnlich. Es gibt vielfältige Hilfsangebote für Familien in Freital, welche unter anderem von der Diakonie, der Arbeiterwohlfahrt, dem DRK oder eben auch vom Kinder- und Jugendhilfeverbund angeboten werden.

Rudolph: Oft fällt es den Betroffenen schwer, sich einzugestehen, dass sie Hilfe brauchen. Meine Erfahrung ist, dass gerade besonders belastete Familien Hemmnisse haben, den Weg zum Beispiel in Beratungsstellen zu finden. Fachkräfte wie Lehrer, Erzieher oder Sozialarbeiter können dabei helfen und den ersten Schritt erleichtern.

In diesem Fall war eine Mutter ganz auf sich allein gestellt. Es gab keine Erzieher oder Lehrer, die hätten eingreifen können.

Lehmann: Das sind außerhalb der Familien oft die ersten, die etwas mitbekommen könnten. Es gibt einen ganz klaren Schutzauftrag und Regeln, wie in Fällen von Vernachlässigung zu verfahren ist. Ein Erzieher oder Lehrer entscheidet dabei auch nicht alleine. Fällt auf, dass ein Kind vernachlässigt ist, besprechen das die Pädagogen im Team und beobachten die Situation. Sie sind auch geschult, auf die Eltern zuzugehen und diese anzusprechen. Das muss natürlich sehr einfühlsam und sensibel erfolgen, sonst ist es gleich aus. Als Schulsozialarbeiter können wir dabei helfen und unterstützen.

Was ist denn eigentlich Vernachlässigung und wann greifen Behörden ein?

Lehmann: Das ist schwierig zu beantworten. Man muss akzeptieren, dass es Eltern gibt, die andere Kriterien als die Allgemeinheit haben. Ich habe schon Kinder erlebt, die mitten im Winter in Sandalen durch die Straße liefen. Das tut uns Sozialarbeitern – wir haben ja selbst auch Kinder – weh. Trotzdem muss das nicht zwingend ein Fall für das Jugendamt sein, wie viele Bürger vielleicht denken.

Rudolph: Das Jugendamt hat teilweise einen schlechten Ruf, ich meine, zu Unrecht. Die zuständigen Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes prüfen sehr genau, welche Unterstützung notwendig und geeignet ist und stimmen diese mit allen Beteiligten ab. Die sozialpädagogische Familienhilfe, welche Familien zu Hause unterstützt und ihre Ressourcen stärkt, ist dafür nur ein Beispiel. Dass Kinder aus Familien herausgenommen werden, ist wirklich der allerletzte Schritt.

Es gibt viele Bürger, die sind der Meinung, das Jugendamt sei damit viel zu zögerlich.

Rudolph: Dieser Eindruck entsteht vielleicht manchmal. Aber ein Kind aus der Familie herauszunehmen und beispielsweise in einem Heim unterzubringen, ist für die Kinder selbst ganz schrecklich. So schlecht die Verhältnisse zu Hause vielleicht sind – es ist ihre vertraute Umgebung. Eine Herausnahme verunsichert sie und macht ihnen Angst.

Lehmann: Als Außenstehender denkt man darüber anders. Da denkt man: Im Heim ist es sauber, es gibt regelmäßiges Essen, die Wäsche wird gewaschen und so weiter. Das stimmt alles, und die Kinder erhalten dort auch eine liebevolle und individuelle Betreuung. Aber ins Heim zu müssen, verkraften viele Mädchen und Jungen ganz schlecht. Von den Eltern getrennt zu werden, ist für die Kinder der schwerwiegendste Eingriff überhaupt. Sie lieben ihre Eltern, trotz aller Umstände. Sie wollen nicht weg. Ihr Zuhause ist ihr Alltag, es gibt ihnen Halt. Eine Unterbringung außerhalb der Familie ist eine schwierige Entscheidung und wird im Vorfeld von den Mitarbeitern im Jugendamt sehr genau geprüft und abgewogen.

Was kann man denn tun, wenn man als Nachbar oder im Freundeskreis mitbekommt, dass Familien überfordert sind und den Alltag nicht auf die Reihe bekommen? Oder wenn es gar Gewalt in den Familien gibt?

Lehmann: Man kann als Außenstehender natürlich versuchen, die Eltern anzusprechen und Hilfe anbieten. Das sollte aber äußerst feinfühlig geschehen. Ist man sich unsicher oder hat ohnehin keinen guten Draht zu den Betroffenen, kann man auch anonym die Behörden, also das Jugendamt, informieren. Die zuständigen Mitarbeiter müssen jedem Hinweis nachgehen. Dass jemand so durchs soziale Netz fällt, wie es in dem Freitaler Fall geschehen ist, sollte nicht passieren.