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Wie die Bodenreform die Erinnerung vergiftet

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Kommentare und Analysen zu aktuellen Themen. Texte, die aus der ganz persönlichen Sicht des Autors Denkanstöße geben, zur Diskussion anregen sollen.Heute: Der Dresdner Historiker Matthias Donath über die konstruierte Schuld aller „Junker“ an der Nazi-Diktatur und den Mythos von der „demokratischen Bodenreform“ in Ostdeutschland. Ein Aufruf zu differenzierter Sicht auf die Geschichte.

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Von Matthias Donath

Im Jahr 2009 veröffentlichte Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität, ein bemerkenswertes Buch. Unter dem Titel „Die Deutschen und ihre Mythen“ analysierte er Orte, Begriffe, Personen und Ereignisse, die das kulturelle Gedächtnis der Deutschen begründen und Gemeinschaft stiften. Diese Mythen, so seine Begriffsprägung, bilden die narrative Grundlage für den Zusammenhalt der Gesellschaft.

Betrachtet man die sächsische Erinnerungslandschaft, wird man feststellen, dass sich die hiesigen Mythen deutlich von dunklen Erinnerungsbildern deutscher Vergangenheit unterscheiden. Die sächsischen Gedächtnisorte vermitteln durchweg frohe und glückliche Empfindungen und ermöglichen es, das Bedürfnis nach Stolz und Gemeinschaft auszuleben.

Doch unter die schönen Erinnerungen mogeln sich auch Mythen, die Zwietracht säen und die Kraft des kulturellen Gedächtnisses unterminieren. Dazu gehört der Mythos von der „demokratischen Bodenreform“. Dabei handelt es sich um eine konstruierte Vorstellung, die sich vom eigentlichen Gegenstand – hier von den Ereignissen im Herbst 1945 – durch Verfremdung oder symbolische Erhöhung gelöst hat und durch wiederholte Reproduktion ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist. Der Mythos ist höchst lebendig und auch zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR noch immer in den Köpfen der Menschen vorhanden. Eine Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung betrachtet die Enteignung des Großgrundbesitzes als ein positives Erbe der jüngeren Geschichte und als Teil der eigenen Identität. Es erstaunt, dass dieser Mythos in den letzten zwei Jahrzehnten nie genauer hinterfragt wurde. Zwar gab es wissenschaftliche Forschungen, doch sind die Ergebnisse nicht zur Öffentlichkeit vorgedrungen.

Thema oft gemieden

Die Institutionen, die Aufklärung hätten leisten können, sowohl wissenschaftliche Einrichtungen wie Museen, haben das Thema gemieden – offenbar aus Angst vor Ablehnung beim Publikum. Man braucht bloß ins Deutsche Landwirtschaftsmuseum im westsächsischen Blankenhain schauen. Die 2007 eröffnete Dauerausstellung „Landwirtschaft in der DDR“ hätte die Chance geboten, sich kritisch mit der Bodenreform auseinanderzusetzen, aber es entstand eine nostalgische Schau, die sich davor hütet, vertraute Vorstellungen infrage zu stellen. Die Bodenreform wird so abgehandelt, wie ich es aus dem DDR-Staatsbürgerkundeunterricht kenne. Von Opfern und sozialen Folgen einer der größten Besitzumverteilungen der deutschen Geschichte ist keine Rede.

Warum ist das so? Es hat zu tun mit dem wohl stärksten Mythos der DDR schlechthin, dem Antifaschismus. Er stellt den Gründungsmythos des Dreibuchstabenlandes dar und bildete das zentrale Element des Selbstverständnisses des ostdeutschen Teilstaates. Antifaschismus hieß, einen besseren deutschen Staat aufzubauen, der sich radikal vom „Faschismus“ löst und einen Neubeginn in der deutschen Geschichte beinhaltet.

Als „Faschismus“ wurde nach kommunistischer Definition die „offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen und am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ verstanden. Aus der Definition folgt, dass der „Faschismus“ beseitigt sei, wenn man die genannten „reaktionären Elemente“ ausgeschaltet habe. Dieses fragwürdige Geschichtsbild wurde benutzt, um die wahren Hintergründe der sowjetischen Besitzergreifung an Elbe und Oder zu verschleiern. Die „antifaschistisch-demokratische Umwälzung“ ging nicht von den Bewohnern des Landes aus, sondern wurde von der sowjetischen Besatzungsmacht mit Hilfe deutscher Kommunisten installiert.

Der Antifaschismus-Mythos war so erfolgreich, weil er die Schuld am Nationalsozialismus von der Masse der Bevölkerung wegnahm und allein auf die „Kapitalisten“ und „Junker“ schob. So konnte eine Vorstellung geprägt werden, die bis heute nachwirkt: Der „antifaschistische“ Neubeginn sei nur möglich gewesen, indem man die „Faschisten“ – also die „Junker“ und „Kapitalisten“ – aus dem Land vertrieben und die „Trutzburgen der Reaktion“ beseitigt habe.

In der Umkehr besagt dieses Geschichtsbild: Kehren die Gutsbesitzer zurück, kehrt auch der „Faschismus“ zurück. Die „Liquidierung der Feudalklasse“, so die menschenverachtende Formulierung, wurde als „demokratisches“ Geschehen dargestellt – eine Begriffsbildung, die noch heute verwirrt und mit dazu beigetragen hat, dass in den Köpfen der ostdeutschen Gesellschaft teilweise Demokratiebilder herrschen, die mit westlichen, freiheitlichen Vorstellungen nichts zu tun haben.

Schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit haben kluge Köpfe gemerkt, dass das Bild von der „Junkerklasse“, die den „Faschismus“ verursacht habe, so nicht stimmen kann. Gerade unter dem alteingesessenen Adel waren nicht wenige, die den Nationalsozialismus abgelehnt hatten – wie es natürlich auch Grundbesitzer gab, die der Ideologie begeisterte Zustimmung entgegen brachten. Aber in welcher Gesellschaftsschicht gab es solche Zustimmung nicht? Und wie kann die pauschale Verurteilung einer ganzen Bevölkerungsgruppe ohne individuelle Schuldprüfung „demokratisch“ sein?

In den Dörfern, in denen die Bodenreform vollzogen wurde, gab es viele, die das Vorgehen gar nicht „demokratisch“ und „gerecht“ fanden. Eine Untersuchung der „Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung im Kreis Dresden-Land“ zum 40.Jahrestag der Bodenreform 1985 dokumentierte verschämt die Kritik, die aus der „von der Ausbeutung befreiten“ Bauernschicht kam. So sagte ein Bauer wörtlich: „Unrecht Gut gedeiht nicht.“

Der Mythos von der „faschistischen“ Junkerschicht ist durch das jahrzehntelange Einwirken des DDR-Bildungssystems und der sozialistischen Presse so zementiert, dass er heute ein Allgemeingut darstellt. Auch jüngere Generationen, die nach 1945 groß geworden sind, geben sich überzeugt, dass die „Junker“ den Nationalsozialismus getragen hätten und ihre Enteignung deshalb gerecht gewesen sei. Wer versucht, die einmal festgelegten Muster zu hinterfragen, sieht sich oft heftiger Kritik ausgesetzt, die nicht etwa von den Rändern, sondern aus der Mitte der Gesellschaft kommt.

Warum diese Aufregung? Wer den Mythos der „demokratischen Bodenreform“ entzaubert, delegitimiert damit den Gründungsmythos der DDR, den so viele ehemalige DDR-Bürger verinnerlicht haben. Er greift ein Stück der Identität der Menschen an, die in der DDR aufgewachsen sind. Kann das aber ein Grund sein, bei der Aufarbeitung der Diktaturen des 20.Jahrhunderts die Bodenreform und ihre Opfer auszusparen? Nein. Wer sich mit dem Thema beschäftigt, kommt zu einem klaren Urteil: Die Bodenreform war ein Unrecht. Die DDR gründete sich auf dieses Unrecht, das man mit dem „Antifaschismus“ bemäntelte.

Wenn man auf die Hintergründe und Folgen der Bodenreform schaut, wird deutlich, wie stark Mythos und Wirklichkeit auseinanderklaffen. In Sachsen wurden im Herbst 1945 insgesamt 1798 Landwirtschaftsbetriebe mit einer Gesamtfläche von 315425 Hektar enteignet. Damit waren etwa 20 Prozent der Gesamtfläche Sachsens von der Umverteilung betroffen.

Die Bodenreform war ein Element der Sowjetisierung, sollten mit ihr doch die Gegner der geplanten sozialistischen Umgestaltung ausgeschaltet werden. Zugleich konnte man durch die Landverteilung die Vertriebenen und Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten integrieren und die bäuerliche Bevölkerung, die mehrheitlich konservativ orientiert war, zufriedenstellen.

Von Stalin angeordnet

Die Bodenreform wurde nicht von den Einheimischen gefordert, obwohl die KPD wider besseres Wissen damals diese Behauptung aufstellte, sondern von Stalin angeordnet. Was sich die Befürworter dieser Umverteilung nur selten deutlich machen, ist die Tatsache, dass es nicht nur Gewinner, sondern auch Opfer gab. Dazu gehörten die Grundbesitzer, die Pächter und – in Sippenhaft – auch ihre Familienangehörigen. Die Enteigneten verloren nicht nur Grund und Boden, sondern auch ihre persönliche Habe, viele von ihnen wurden verhaftet und deportiert. Die Familien wurden aus ihren Heimatorten vertrieben oder flohen vor den Verfolgungen. Menschen starben an den Folgen dieser „Liquidierung der Feudalklasse“.

Hinzuweisen ist auch auf die gewaltigen kulturellen Verluste. Infolge der Enteignung wurde wertvolles historisches Inventar vernichtet. Archive, Bibliotheken, Gemälde und Möbel gingen verloren. Die Erinnerung an die Gutsbesitzer wurde gezielt ausgelöscht, indem man Wappen, Türme und andere Symbole beseitigte und die Vergangenheit vor 1945 pauschal als eine Geschichte der Ausbeutung und der Klassenkämpfe behandelte.

Einen wichtigen Anteil an der Auslöschung der Erinnerung hatte der Befehl207 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) vom 9.September 1947. Er ordnete den Abriss von Schlössern und Herrenhäusern an, um Baumaterial für die Errichtung von Neubauernhöfen zu gewinnen und um den „Gutscharakter“ der bisherigen Rittergüter unkenntlich zu machen. In Sachsen wurden bis 1952 etwa 300 Schlösser und Herrenhäuser sowie zahlreiche Rittergutsgebäude abgebrochen – ein unbeschreibliches mutwilliges Zerstörungswerk!

In dieser traurigen Geschichte gab es aber auch Helden. Die Schlossabbrüche stießen nicht auf ungeteilte Zustimmung, ja es gab sogar Versuche, gegen die von der SMAD angeordneten Maßnahmen vorzugehen. So meldete die westdeutsche „Welt“ vom 16.März 1948 über die Schlossabbrüche: „In der Bevölkerung Sachsens herrscht über diese Maßnahme große Erregung und Beunruhigung. Von vielen Seiten wird versucht, dem sinnlosen Zerstören künstlerischer Werte Einhalt zu gebieten.“ Die Museumsdirektoren schrieben Protestbriefe; der Stadtrat von Zittau bat, den Abbruchbefehl zu überdenken. In vielen Dörfern versuchten Bürgermeister und Anwohner, zum Abbruch bestimmte Schlösser zu retten, indem sie eine Nutzung als Schule, Wohnhaus oder Sozialeinrichtung vorschlugen.

Die einzige staatliche Dienststelle, die gegen die Schlossabbrüche auftrat, war das Landesamt für Denkmalpflege in Dresden. Landesdenkmalpfleger Walter Bachmann wollte zumindest die eingetragenen Baudenkmale vor dem Abbruch retten. Zusammen mit den betroffenen Gemeinden versuchte er, öffentliche Nutzungen zu organisieren, um die Gebäude zu erhalten. Da Ministerialrat Wilhelm Grothaus auf der Erfüllung der Abbruchpläne beharrte, gelang es nur selten, Baudenkmale wieder von der Abbruchliste zu nehmen.

Auch in der SED gab es Gegner der Schlossabbrüche. Oftmals waren es ehemalige Sozialdemokraten, die sich gegen die blindwütige Zerstörung stellten. So sprach sich der Leipziger Oberbürgermeister Erich Zeigner für eine Weiternutzung der Schlösser aus. In einem Schreiben an Innenminister Kurt Fischer vom 12.Juni 1948 bot Zeigner an, die Stadt Leipzig könne die zum Abbruch vorgesehenen Schlösser Bornitz, Canitz, Naundorf und Stösitz für soziale Zwecke übernehmen. Das Vorhaben scheiterte leider. Nur in Einzelfällen konnten Schlösser durch das Verhandlungsgeschick der Bürgermeister und Gemeindevertreter vor dem Abbruch gerettet werden.

Erinnerung an Schlösser gelöscht

Zu den schlimmsten Folgen der Bodenreform gehört, dass die Schlossabbrüche tatsächlich ihr Ziel erreicht haben. In den Orten, in denen die Abbrüche erfolgten, ist die Erinnerung an die Rittergüter und ihre Geschichte weitgehend ausgelöscht. Fragt man in Wingendorf bei Freiberg, wo das Herrenhaus stand, wie es aussah und wer dort gelebt hat, findet man keinen, der auch nur irgendwie Auskunft geben könnte. Es gibt noch nicht einmal ein Foto, wie dieses Herrenhaus vor 1945 ausgesehen hat. Das kollektive Gedächtnis ist nun mal an Orte gebunden. Wer diese Orte zerstört, löscht auch einen Teil der Erinnerung. Er kann die hergebrachten Überlieferungen durch neue Mythen überschreiben, so wie es die „Sieger der Geschichte“ in der Sowjetischen Besatzungszone getan haben.

Damit sind wir wieder bei den Mythen. Sie sind wichtig, weil sie eine Gesellschaft zusammenhalten. Der Mythos von der „demokratischen Bodenreform“ ist jedoch gefährlich, weil er die Menschen spaltet statt eint. Er ist gefährlich, weil er die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Gegenwart verhindert.

Von nachhaltiger Wirkung ist auch, dass die Schlösser und Herrenhäuser mit der Enteignung des Grund und Bodens ihre wirtschaftliche Grundlage verloren. Für die Kulturlandschaft hat das fatale Folgen: Etwa ein Drittel der sächsischen Herrensitze, die die Zerstörungswelle überlebt haben, steht vor dem Verfall. In den letzten zwanzig Jahren wurden bereits 30 baufällige Herrenhäuser abgebrochen, die nicht mehr zu sanieren waren. Die Frage, was aus den historischen Herrensitzen wird, wenn es keine Herren mehr gibt, ist noch längst nicht beantwortet. Und sie lässt sich auch nicht beantworten, solange das Zerrbild von der „demokratischen Bodenreform“, von der angeblich „gerechten“ Enteignung „faschistischer“ Grundbesitzer die Erinnerung vergiftet.