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Wenn der Kopf verrückt spielt

Katalin Müller, Chefärztin der Görlitzer Kinderklinik, ist Epilepsie-Spezialistin und hat schon mancher Familie geholfen.

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© nikolaischmidt.de

Von Daniela Pfeiffer

Fabrice* war schon immer ein verträumter Junge gewesen. Seine Mutter machte sich keine Gedanken. Auch als er in der Schule Probleme bekam, wäre sie nie auf die Idee gekommen, dass eine ernsthafte Erkrankung dahinter stecken könnte. Da fehlten mal beim Diktat ein paar Buchstaben oder der Junge hatte vergessen, diese oder jene Hausaufgabe einzutragen. Eine Konzentrationsschwäche? Möglicherweise das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADS? Sie sprach das Thema beim Kinderarzt an, ging mit ihm zur Ergotherapie. Bis aber die entscheidenden Untersuchungen in der Görlitzer Kinderklinik gemacht wurden, strich Zeit ins Land. Erst nachdem hier Wach- und Schlaf-EEGs gemacht wurden – also die Hirnströme von Fabrice gemessen wurden, war klar, warum er so verträumt war. Denn das war er nicht wirklich.

„Er hat Absence-Epilepsie“, klärt seine Ärztin Katalin Müller auf. Die Ungarin ist seit sieben Monaten Chefärztin der Görlitzer Kinderklinik am Städtischen Klinikum. Die 40-Jährige ist Fachärztin für Kinderheilkunde mit dem Schwerpunkt Neuropädiatrie (Kinderneurologie). Studiert und die ersten beruflichen Schritte hat sie am Semmelweiß Universitätsklinikum Budapest gemacht. Nachdem sie ihren deutschen Mann kennenlernte, kam sie 2011 nach Deutschland und arbeitete bis zum Wechsel nach Görlitz in Mainz. Auch ihre Mutter ist Neuropädiaterin. „Das interessierte mich schon als Kind, ich habe meine Mutter viel auf der Arbeit besucht“, sagt Müller, die in ihrer Familie die 16. Ärztin ist. Obwohl ihr die Arbeitsbedingungen in Deutschland deutlich mehr zusagen, wäre sie aus Heimatliebe gern in Ungarn geblieben. Aber die andere Liebe war stärker. Und so schloss sie letztlich mit ihrem Wechsel nach Görlitz im März dieses Jahres eine wichtige Lücke in der Versorgung von Kindern mit neurologischen Erkrankungen in der Region. Davon profitiert auch Fabrice – nicht nur am heutigen Tag der Epilepsie.

Diagnose Epilepsie war ein Schock

Die Form der Epilepsie, an der Fabrice erkrankt ist, ist genetisch bedingt und bleibt oft lange unerkannt, erklärt die Ärztin. Oft zeigt sich wie bei Fabrice erst in der Schule, dass etwas nicht stimmen kann. Das Gefährliche ist, dass es neben den kurzen Aussetzern, die bei Fabrice bis zu 30 -mal am Tag passierten und eben für verträumte Momente gehalten wurden, auch zu einem großen epileptischen Anfall kommen kann. So, wie man ihn gemeinhin kennt: Das Kind ist völlig weggetreten, hat Zuckungen und Schaum vor dem Mund. Davor hat auch Fabrice’ Mutter Angst, doch sie ist vorbereitet. Dr. Müller hat ihr ein Notfallset mitgegeben, das sie im Fall des Falles benutzen könnte, bis der Notarzt kommt. Vielleicht kommt es nie so weit denn es sieht gut aus für Fabrice. Seit der Diagnose im Mai sind einige Monate vergangen, Fabrice geht es durch die Medikamente schon deutlich besser. „Im Moment stellen wir zwar um, weil sich das erste Medikament zu negativ auf sein Gewicht auswirkte, aber wir sind optimistisch, dass es ihm auch mit diesem gut gehen wird“, sagt Katalin Müller. Seine Mutter, für die die Diagnose ein Schock war und die immer noch Tränen in den Augen hat, wenn sie darüber spricht, ist unendlich erleichtert. Auch über die Aussicht, dass sich diese Form der Epilepsie wahrscheinlich verwachsen wird. „Das hängt mit der Entwicklung des Gehirns zusammen“, erklärt die Spezialistin. Für Fabrice, seine Muter und andere Familien ist es ein Segen, dass sie mit Katalin Müller nunmehr eine solche Spezialistin vor Ort haben. Die Mutter von Fabrice steht in ständigem Kontakt mit der Ärztin, alle zwei Monate sehen sie sich, telefonieren zwischendurch.

Katalin Müller sagt, dass Fabrice kein Einzelfall ist. Sechs bis acht Kinder pro Monat werden wegen Epilepsie im Klinikum behandelt, vor allem Klein- und Schulkinder, aber auch Säuglinge. Doch es gibt vermutlich eine hohe Dunkelziffer. Immer wieder bekommen Kinder nachts Anfälle, ohne dass jemand etwas bemerkt. „Wenn ein Kind morgens ganz schwer aus dem Bett kommt, müde und verdreht ist, kann ein Anfall dahinter stecken“, sagt sie. „Oft kommt das erst raus, wenn mal ein Freund mit übernachtet oder es bei Klassenfahrten auffällt, dass das Kind nachts krampft.“ Bei großen Anfällen empfiehlt sie unbedingt immer den Notarzt zu rufen. „Zumal auch anderes dahinter stecken kann, wie Infektionen, Stoffwechselstörungen oder eine Blutung im Kopf. “ Dennoch gibt es Grund zur Zuversicht – zumindest wenn es um Epilepsie geht. „Die Forschung bringt immer neue Erfahrungen und Erkenntnisse, letztlich neue Medikamente und andere Therapieformen wie die ketogene Diät.“

Nicht zuletzt ist Katalin Müller selbst an diesem Prozess beteiligt. Ganz aktuell hat sie im September das Zertifikat „Epileptologie“ der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie erhalten. Schon seit Studienzeiten nimmt sie regelmäßig an Kongressen teil, dem der Epilepsie-Liga beispielsweise. Zudem ist sie Mitglied der Epilepsie-Gesellschaft und nimmt an den Treffen der Sozialpädiatrischen Zentren Deutschlands teil. Ein solches Zentrum, das SPZ, hat auch das Klinikum. „Dadurch läuft hier vieles schon sehr gut“, sagt Dr. Müller. Trotzdem möchte sie die Neuropädiatrie in Görlitz weiter aufbauen, Kindern mit Entwicklungsstörungen, Muskelerkrankungen und Migräne noch besser helfen. Damit sie und ihre Eltern auch so erleichtert aus der Kinderklinik gehen können wie Fabrice und seine Mutter.

*Name geändert