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Wehmut und ein wenig Trauer

In Bogatynia haben sich jetzt zum zehnten Mal ehemalige und heutige Bewohner der Stadt getroffen – vielleicht zum letzten Mal.

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© Rolf Hill

Von Rolf Hill

Bogatynia. Lange vor der vereinbarten Zeit sitzt ein alter Herr an diesem Sonnabendnachmittag auf dem Parkplatz an der ehemals evangelischen Kirche St. Peter und Paul in Bogatynia (Reichenau) in seinem Pkw. Viele Erinnerungen an seinen alten Heimatort Reichenau gehen Johannes Riedel durch den Kopf, während er auf weitere Gäste des vom Heimatverein „Bruderschaft des Reichenauer Landes“ (Bratctwo Ziemi Bogatynskiej) organisierten Treffens ehemaliger und heutiger Bewohner wartet. Es ist das zehnte und nach offizieller Ankündigung wohl auch das letzte. Zu diesem Schritt hatte man sich entschlossen, nachdem in den letzten Jahren die Anzahl der Teilnehmer aus Alters- und Gesundheitsgründen immer weiter zurückgegangen war.

Wehmut und ein wenig Trauer erfasst darum auch Johannes Riedel. Schließlich war der heute 89-jährige Zittauer im Oktober 2009 einer der Ersten, die der polnischen Einladung unter dem Motto „Auf gemeinsamen Wegen“ nach Bogatynia folgten. Damals hatte man sich das Ziel gesetzt, mithilfe neu zu knüpfender Beziehungen und Kontakte gegenseitiges Vertrauen zu gewinnen, um auf dieser Basis die gemeinsame Geschichte aufzuarbeiten. Erster Schritt war die Umbenennung des bisherigen Gagarin-Parks, der seither den Ehrennamen „Stadtpark Carl August Preibisch“ trägt. Ein Tag, den Johannes Riedel nie vergessen wird. Deshalb zog es ihn mit Unterbrechungen auch wieder zu den folgenden Begegnungen. Er denke noch immer daran, wie er in der katholischen Kirche unweit des heutigen Tesco-Marktes als Ministrant dem Pfarrer half, sagt Riedel. Bis 1938 lernte er in der katholischen Schule, die dann von den Nazis aufgelöst wurde. Also musste er wechseln. 1943 trat er als Lehrling in die Firma Karl Lindemann, Färberei und Appretur, ein. Dann der 22. Juni 1945, ein Schicksalstag: „10 Uhr mussten wir uns auf dem Stellplatz einfinden“, sagt Johannes Riedel. „Erlaubt war nur Handgepäck, höchstens ein kleiner Leiterwagen.“ Endstation war Zittau – so blieb es bis heute.

Langsam füllt sich der Vorplatz der Kirche, und Urszula Sosnowska, Vorsitzende des Gastgebervereins BZB, begrüßt weitere Neuankömmlinge aus Zittau. Unter ihnen ist der 94-jährige Helmut Liebig. Für ihn und seine Olbersdorfer Begleiterin Birgit Proft ist dieser Ort vertrautes Terrain. Seit Jahren unterstützen beide die Freunde des BZB, besonders den, trotz seiner 84 Jahre noch immer unermüdlichen Edward Semper, bei der Pflege des ehemals evangelischen Friedhofes. Dort wurde in mühevoller Kleinarbeit viel geschafft. Das betrifft auch die kleine evangelische Kapelle, die jüngst ein neues Dach erhielt. „Eigentlich bin ich nur Reichenauer geworden, weil meine Mutter hier aufgewachsen ist“, erzählte Helmut Liebig bei einer früheren Begegnung. Sein Vater hingegen war ein echter Olbersdorfer, der aber der Liebe nicht widerstehen konnte und über die Neiße kam. Seine Kindheit verlief relativ sorglos. Er besuchte die Obere Schule, und weiß noch, dass er aufgrund guter schulischer Leistungen für den Besuch des Gymnasiums in Zittau vorgesehen war. Dieser Gedanke gefiel Liebig aber gar nicht. Lieber begann er eine Lehre in der Gummiläuferfabrik Paul Posselt & Co. Helmut Liebigs Zeit in Reichenau endete praktisch mit der Einberufung zur Wehrmacht im April 1942. Nach dem Ende des Krieges kam er in Gefangenschaft und landete schließlich nach mehr als sechs Jahren in Zittau, nahe der alten Heimat, wo er bis heute lebt.

Natürlich darf beim Treffen der Besuch des ehemaligen Schmalspurbahnhofs, heute Domizil des Gastgebervereins BZB, nicht fehlen. Ein guter Ort, um ein gemeinsames Erinnerungsfoto zu schießen. „Weißt Du noch?“, heißt es dann während des geselligen Beisammenseins im Anschluss an die Reden von Bürgermeister Andrzej Grzmielewicz, Gastgeberin Urszula Sosnowska und weiteren offiziellen Vertretern. Doch bei aller Freude über das Wiedersehen nach neun Jahren steht immer die Frage im Raum: „Soll das nun wirklich das Ende sein?“ Was die Beziehungen über die Grenze hinweg anbelangt, sicher nicht. Daran ließen weder der Bürgermeister noch die Freunde des BZB Zweifel. Selbst wenn dieses Treffen offiziell das letzte gewesen sein sollte, werde man natürlich alles unternehmen, um die vielen persönlichen Kontakte und Freundschaften weiter zu fördern und zu pflegen, hieß es von beiden Seiten.