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Was erzählen die Flüchtlinge?

Die Gohrischerin Juliane Dietrich sammelt Fluchtgeschichten. Und fühlt sich selbst erst seit Kurzem zu Hause.

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© Norbert Millauer

Nancy Riegel

Gohrisch. Einmal Großstadt und wieder zurück: Juliane Dietrich wuchs in Seifhennersdorf in der Oberlausitz auf, studierte in Potsdam und Berlin und wohnt nun seit eineinhalb Jahren in Gohrisch. Mit ihrem Mann leitet die 34-jährige Sozialpädagogin Workshops für Menschen, die ihre Jugend sowohl in der DDR als auch im vereinten Deutschland erlebten. Außerdem engagiert sie sich für Flüchtlinge und möchte Königsteiner Schüler und Geflüchtete in den Dialog bringen. Der SZ erzählte sie, was sie mit ihrer Arbeit in der Region bewirken will.

Frau Dietrich, Sie beschäftigen sich viel mit dem Thema Flucht. Nach dem Abitur konnten Sie es kaum erwarten, Ihre Heimat in der Oberlausitz zu verlassen. Sehen Sie sich selbst als Geflüchtete?

Ja, irgendwie schon. In Sachsen sah ich damals für mich einfach keine Perspektive.

Und warum dann die Rückkehr in die Region Ostsachsen?

Mein Mann und ich wollten gern, dass unser Sohn auf dem Land groß wird. Er ist jetzt zweieinhalb. Mittlerweile weiß ich es zu schätzen, in die Heimat zurückkehren zu können, wenn ich es will. Das wünsche ich übrigens auch den Flüchtlingen bei uns. Dass sie irgendwann in ihre Heimatländer zurückkönnen – wenn sie es wollen und die politische Situation es zulässt.

Rechtsgesinnte erheben immer wieder Vorwürfe, dass die meisten Asylsuchenden keine „richtigen“ Flüchtlinge seien.

Solche Aussagen sind für mich unverständlich. Wenn mir Asylbewerber Bilder ihrer zerbombten Häuser zeigen oder wenn sie mir erzählen, wie sie in ihrem Land politisch verfolgt wurden, vor Krieg und Armut geflüchtet sind …

Ist das für Sie ein ostdeutsches Phänomen?

Radikalisierung findet gerade in ganz Deutschland statt. Aber im Osten brachte die Wende für viele einen Bruch mit ihrem gewohnten Leben. Einen Identitätsverlust, eine Entwertung der eigenen Existenz. Jetzt kommen neue Menschen in ihr Land, die anders sind, und ihr Leben wieder „durcheinanderbringen“ könnten.

Wie gestaltet sich Ihre Arbeit mit Flüchtlingen in Königstein?

Das Projekt „Willkommen in Königstein“ organisiert mit dem Lichtspiele-Verein Freizeitaktionen und Erzählcafés mit Geflüchteten. Dabei helfe ich mit. Außerdem stecke ich gerade in den Vorbereitungen zu einer Dialogveranstaltung Ende Oktober namens „Wir sind das Wir“. Dabei treffen lebende Bücher, also Erzähler, auf ihre Leser. Die Bücher sind 20 Geflüchtete, die ihre Geschichten erzählen. Die Leser sind 50 Schüler der zehnten Klasse der Oberschule Königstein, die ihnen zuhören und Fragen stellen. Unterstützt wird die Veranstaltung unter anderem vom Anne-Frank-Zentrum aus Berlin, Schirmherr ist Königsteins Bürgermeister Tobias Kummer.

Woher stammen die „Bücher“?

Es sind ganz verschiedene Menschen: Alter, Nation, Sprache, Religion. Auch die Gründe ihrer Flucht sind unterschiedlich. Mit dabei sind zum Beispiel Sudetendeutsche. Auch ein Erzähler, dessen Eltern Juden sind und deswegen verfolgt wurden. Wir haben auch einen Mann dabei, der in der DDR ins Gefängnis kam, weil er Punker war und vom Westen freigekauft wurde. Natürlich sind auch viele aktuell Geflüchtete dabei, sie kommen unter anderem aus Syrien, dem Irak und Indien.

Was haben diese Menschen gemein?

Auf jeden Fall schon einmal nicht die Sprache. Die Einführungsveranstaltung für die Erzähler mussten wir auf vier Sprachen halten (lacht). Deswegen wird es auch Dolmetscher geben. Aber die Geflüchteten können trotzdem voneinander lernen. Für die jungen Menschen, die gerade erst nach Deutschland gekommen sind, ist es interessant zu erfahren, dass die Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg ähnliche Probleme hatten wie sie. Auch sie haben sich unwillkommen gefühlt und schlussendlich in die Gesellschaft gefunden. Diese Erfahrungen sollen auch die Schüler ermutigen, ein Gespräch in Augenhöhe mit den Geflüchteten zu führen.

Erzählen die Bücher bereitwillig Ihre Geschichten?

Die Hemmschwelle, darüber zu reden, ist doch sehr hoch. Es war gar nicht so einfach, Teilnehmer zu finden. Es gab Menschen, die haben sich viele Stunden mit mir unterhalten und dann doch abgesagt, weil ihnen die Sache zu nah ging. Gerade die älteren Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg konnten das nie richtig verarbeiten. Man musste die Befindlichkeiten vergessen, um in der Gesellschaft zu funktionieren.

Welche Projekte haben Sie in Zukunft geplant?

Mit Mitstreitern will ich den Verein Weltbewusst gründen. In erster Linie wollen wir Bildungsarbeit zu den Themen Flucht, Wende und dem Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen leisten. Derzeit warten wir noch auf die Anerkennung durch die Bundeszentrale für politische Bildung. Auch, um Fördergelder zu erhalten.

Jetzt haben wir so viel über Flucht geredet. Fühlen Sie sich eigentlich in Gohrisch mittlerweile zu Hause?

Ja, ich fühle mich angekommen.

Zu Juliane Dietrics Homepage