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Vom Trecker auf den Truck

Als ihr Landwirtschaftsbetrieb schloss, stieg Karola Seidel aus Niedercunnersdorf um. Eine Zehnfach-Omi auf dem Bock.

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© Thomas Eichler

Von Markus van Appeldorn

Niedercunnersdorf. Manchmal denkt Karola Seidel noch an den W50 zurück, dieses Urviech von DDR-Lastwagen. „Auf einem W50-Hängerzug habe ich 1981 meinen Lkw-Schein gemacht“, sagt die Niedercunnersdorferin. 24 Jahre war sie damals alt. Den Beruf einer Truckerin hatte sie dabei gar nicht vorrangig im Kopf – aber eine Frau muss praktisch denken: „Zu DDR-Zeiten musste man lange warten, um einen Pkw-Führerschein machen zu können“, erzählt sie. Aber als „Zootechnikerin/Mechanisatorin“ bei der LPG hatte sie das Privileg, den Lkw-Schein zu erwerben. „Und damit konnte ich jedes Auto fahren“, sagt Karola Seidel. Mit dieser Fahrerlaubnis bildete sie dann oft eine Szene, die auch quasi jeder DDR-Bürger als Bild in der Tasche hatte: Ein Mähdrescher, der seinen Drusch auf einem nebenherfahrenden W50-Hängerzug ablädt – das Rückseiten-Motiv der Fünf-Mark-Banknote der DDR.

Am liebsten hätte Karola Seidel damals schon den Fahrersitz gewechselt. „Ich bin ein Technik-Freak“, sagt sie. „Wenn ich früher die Möglichkeit gehabt hätte, wäre ich gerne auf dem Mähdrescher gefahren.“ Doch mit der Landwirtschaftskarriere der Bauerntochter war es 1997 schlagartig vorbei. „Damals habe ich in Niedercunnersdorf beim Schweinezuchtbetrieb der Dürrhennersdorfer Genossenschaft als Letzte das Licht ausgemacht“, erinnert sich Karola Seidel. 40 Jahre alt. Zu jung, um auf die Rente zu warten. Auch wenn außer dem Jüngsten schon alle Kinder volljährig und aus dem Haus sind. Also besann sie sich auf ihre Leidenschaft für Maschinen und Motoren. „Ich habe dann in Kittlitz eine Ausbildung als Berufskraftfahrer gemacht“, sagt sie. Kartenkunde, Routenberechnung, Gesetzgebung – das ist schon mehr, als in der LPG mit dem Trecker herumzufahren.

Aber die große Truckerwelt muss damals noch warten. In Neugersdorf sitzt sie zunächst ein paar Jahre auf einem Paketdienst-Sprinter, für ein Neueibauer Unternehmen lenkt sie dann schon einen Sattelzug-Kipper von Baustelle zu Baustelle. Vor sechs Jahren sagte ihr Mann Gerd schließlich: „Komm mal zu uns.“ Mit „uns“ meinte er die Spedition Köhler in Seifhennersdorf, bei der er selbst schon jahrelang einen Truck fuhr. „Mein Mann hat eine neue Zugmaschine bekommen und ich habe seine übernommen. Von der wusste ich, dass sie gut und gepflegt ist“, sagt Karola Seidel. Seit sie am Steuer des beinahe vier Meter hohen Kolosses sitzt, ist ihr Dasein als Kraftfahrerin in eine neue Dimension getreten. Gegen die 440 PS des MAN macht sich ihr einstiger W50 wie ein Spielzeug aus. Und die Laufleistung solcher Sattelzugmaschinen bemisst sich nicht danach, wie oft sie die Erde umrundet haben, sondern wie oft sie schon die Distanz zwischen Erde und Mond zurückgelegt haben – 380000 Kilometer. „Über 1,1 Millionen Kilometer hat der jetzt auf dem Tacho. Gut 600000 davon bin ich selbst gefahren“, sagt Karola Seidel. Bis zu 3500 Kilometer nimmt sie jede Woche unter die Räder. Täglich ist sie mit ihrem 40-Tonner zwischen Görlitz und Aachen, Rostock und Bad Reichenhall unterwegs. Und zum Job gehört es auch noch regelmäßig, den Hänger selbst mit tonnenschweren Paletten zu beladen. Und wenn‘s sein muss, wechselt sie mit ihren nunmehr 61 Jahren auch noch selbst eins der mächtigen Räder ihrer Zugmaschine. „Das hat weniger mit Kraft, sondern mehr mit der richtigen Technik zu tun“, sagt Karola Seidel.

Ihr Beruf als Fernfahrerin hat auch das Eheleben verändert. Abends daheim – das gibt‘s seit Jahren nicht. Jede Nacht verbringt sie in der Koje hinter dem Fahrersitz auf einem anderen Rastplatz der Republik. „Ich lebe in dem Auto. Das ist für mich Arbeitsplatz, Wohnzimmer, Küche und Schlafstube in einem“, sagt Karola Seidel. Und da will sie es ordentlich haben. Da ist sie pingelig. Der Boden der Fahrerkabine ist mit rotem Vlies ausgelegt. Für die Abtrennung der Schlafkabine hat ihr eine Freundin einen Samtvorhang mit Troddeln genäht. „Wenn jemand hier reinschaut und sagt: Ui, bei Dir sieht‘s aber schön aus, freue ich mich“, sagt sie.

Auch wenn sie jeden Tag weit von der Heimat entfernt ist, die Familie hat sie dennoch immer an Bord. Ein Eichhörnchen, ein Bär und eine Maus reihen sich hinter der Windschutzscheibe auf. „Von jedem meiner drei Kinder ein Talisman“, sagt die mittlerweile zehnfache Großmutter. Von ihrem Mann Gerd hängt ein Namenswimpel an der Scheibe. „Ich liebe diesen Beruf. Sonst könnte ich‘s nicht machen“, sagt sie. Und ihr Mann Gerd gibt ihr Rückhalt: „Ich bin stolz auf meine Frau“, sagt der Rentner. In diesem Jahr sind die beiden 41 Jahre verheiratet – Trucker-Romantik.