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Vom langen Leben eines Zeitungszustellers

Wilfried Collmar wird 90. Der SZ erzählt er, was aus seinem legendären Moped wurde – und von seinem größten Fehler.

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© Daniel Schäfer

Von Gunnar Klehm

Rosenthal-Bielatal. Für Wilfried Collmar ist es eine Freude, in den alten Fotos zu stöbern. Tochter Kerstin Israel hat sie aus dem Obergeschoss geholt. Er selbst kann sich nicht mehr so gut bewegen. „Die Lendenwirbel sind hin. Mein Arzt kann da auch nichts mehr machen“, sagt Collmar. Ein Leben lang hat er hart gearbeitet. Am Sonnabend, dem 24. März, wird er 90 Jahre alt. Noch immer lebt er in seinem Häuschen in Bielatal. Noch mit 83 Jahren hat er die Sächsische Zeitung im Ort ausgetragen – weil er es wollte. „Gemusst hätte ich das nicht“, sagt er. Das frühe Aufstehen war er aus der Landwirtschaft gewohnt, von der er bis zur Rente lebte. Weil er aber immer was zu tun haben musste – und das am besten an frischer Luft – meldete er sich für die Zeitungszustellung. Damit ist lange Schluss. Am Hauseingang steht sein Rollator.

Noch als 83-Jähriger fuhr er die SZ mit seinem Moped aus.
Noch als 83-Jähriger fuhr er die SZ mit seinem Moped aus. © privat
Erinnerungsfoto an die Schulzeit: Wilfried Collmar ist hier acht Jahre alt.
Erinnerungsfoto an die Schulzeit: Wilfried Collmar ist hier acht Jahre alt. © Daniel Schäfer
Porträtfoto im FDJ-Hemd: 1953 war er noch von der Sache überzeugt.
Porträtfoto im FDJ-Hemd: 1953 war er noch von der Sache überzeugt. © Daniel Schäfer

Jetzt sitzt Wilfried Collmar an dem runden Tisch in seiner Küche. Der Kohleofen macht den niedrigen Raum gemütlich warm. Auf der geblümten Tischdecke liegen die Sächsische Zeitung und ein Berg alter Fotos. Der Rentner nimmt ein paar von ihnen in seine knöchernen Finger, schaut, lächelt und beginnt zu erzählen.

Schnell ist er bei der bewegendsten Zeit seines Lebens. Es sind die Jugendjahre von 17 bis 21. Die heutige Generation würde wahrscheinlich sagen: Da ging’s ab! Doch Collmars Jugend war elend. „Ich kam in Kriegsgefangenschaft, ohne einen Schuss abgegeben zu haben“, sagt er. Im April 1945, gerade 17 Jahre alt geworden, hatte er sich zur Wehrmacht gemeldet. Über Prag ging es Richtung Ostfront. „Sie werden es nicht glauben, aber ich dachte damals tatsächlich, dass wir den Krieg noch gewinnen werden“, erklärt er. Viel zu spät merkte er, dass alles Lug und Trug war.

Noch bevor er mit seiner Einheit die Front erreicht, wird am 8. Mai offiziell die Kapitulation verkündet. Doch statt sich so schnell wie möglich nach Westen abzusetzen, werden sie zu Zehntausenden von den Russen einkassiert und Wochen später in Güterwagons nach Sibirien gefahren. Mit einem erfrorenen Zeh kehrte er erst kurz vor Weihnachten 1949 zurück. „Ich hege aber keinen Groll gegen die Russen und kann auch nicht verstehen, wie heute mit ihnen umgegangen wird“, sagt er.

Der Traum von den Alpen

Viele seiner aktuellen Informationen hat er aus der Sächsischen Zeitung. „Die lese ich schon immer“, sagt Collmar. Nicht alles mit gleichem Interesse, aber immer den Lokalteil und die Leserbriefe.

In den 1950er-Jahren herrschte Aufbruchstimmung. Collmar wollte die neue Zeit mitgestalten. In die FDJ und später die Einheitspartei SED einzutreten, gehörte dazu. Als Agraringenieur im Volksgut Langenhennersdorf hatte er bald einiges mitzubestimmen, kritisierte aber die Trennung von Tier- und Pflanzenproduktion und den Zwang zur Kollektivierung. Als dann 1961 die Mauer hochgezogen wurde, „war ich nicht mehr überzeugt“, erzählt er. Die dreieinhalb Jahre als Abteilungsleiter im Volksgut bezeichnet er heute aber als die schönste Zeit. Die endete, als er sich entscheiden sollte: noch mal auf die Schulbank, um Lehrlinge ausbilden zu dürfen, oder zurück in die Produktion. Collmar entschied sich für Letzteres. „Das war der größte Fehler meines Lebens“, sagt er. Als Jungviehpfleger habe er sich danach an nichts mehr beteiligt. Schließlich wurde 1990 gefragt, wer in Vorruhestand gehen würde. Er war sofort bereit.

Mit dem Geld vom Zeitungsaustragen verdiente er sich etwas dazu, um Reisen zu machen, von denen er träumte, etwa in die Alpen oder zusammen mit seiner Lebensgefährtin mit Schiff und Bus nach Skandinavien. „Jetzt ist wohl nur noch eine Kur an der Ostsee drin, wo ich mit meinem Rollator keine Steigungen bewältigen muss.“

In Bielatal war er für sein knatterndes und damit manchmal unbeliebtes Moped bekannt, mit dem er auch mit 83 noch die SZ verteilte. Dann ging es aber selbst mit Moped nicht mehr. Er war der Älteste, der die Pirnaer Ausgabe zugestellt hat. In Prossen hatte zuvor eine Frau sogar erst mit 85 aufgehört, Zeitungen auszutragen.

Collmars Moped ist schon lange nicht mehr zu hören. „Ich habe es dem Enkel gegeben“, sagt er gelassen. Dann findet er in dem Stapel vor sich ein Foto mit seinem Motorrad, einer Awo. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte. Vielleicht erzählt er sie Karfreitag beim Essen mit 35 geladenen Gästen im Heidekrug in Cotta.