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Verlängerter Besuch in Görlitz

Vor 50 Jahren besucht ein Lehrer-Ehepaar Görlitz. Als sie zurückreisen wollen, geraten sie mitten in den Einmarsch der Roten Armee.

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© Nikolai Schmidt

Von Robert Bosse

Görlitz. Als „Frühling im wahrsten Sinne des Wortes“, beschreibt Eberhard Hellwig seine Erlebnisse in der Tschechoslowakei in den Monaten April und Mai 1968. „Die Menschen waren frei, man konnte sagen, was man dachte.“ Der heute 83-Jährige war damals Russischlehrer an der 7. Oberschule in Görlitz. Durch den Schulchor gab es eine Verbindung zu einer Schule in Jablonne, eine Stadt im Adlergebirge im Osten Tschechiens. Ende Mai 1968 besuchte der Görlitzer Chor die Schule im „Bruderstaat“. Eberhard Hellwig fuhr als Begleitlehrer mit. Er knüpfte Kontakt mit dem dortigen Russischlehrer und erlebte die Maifeier im Zeichen des Prager Frühlings. Die Frische und Freiheit der Menschen sei ihm vor allem in Erinnerung geblieben, erzählt er.

Grund dafür war ein Reformprogramm der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPC). Diese strebte einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ an. Konkret hieß das auch Aufhebung der Zensur und Einführung der Redefreiheit, bis dato im Ostblock unvorstellbar. Doch zumindest für eine gewisse Zeit, im Frühling 68, bestimmten die Reformen das Leben von sehr vielen Menschen.

Bevor sich der Russischlehrer in Jablonne verabschiedete, lud er seinen Kollegen und dessen Frau noch nach Görlitz ein. Beide sagten auch zu und besuchte ihn noch im August desselben Jahres. Dann die Ernüchterung: „Der Einmarsch der Truppen der Roten Armee am 21. August traf uns wie ein Keulenschlag.“ Die Sowjetunion reagierte auf die Reformen der Tschechoslowakei mit militärischer Gewalt. In Prag und anderen Teilen des Landes kam es zum Teil zu blutigen Auseinandersetzungen. Für Eberhard Hellwig und seine Gäste hieß das zunächst, dass der Aufenthalt in Görlitz verlängert werden musste. Die Grenzen waren dicht, Telefonverbindungen gekappt. Die Besucher harrten also weiter bei ihm aus und versuchten zwischenzeitlich noch erfolglos, eine Straßensperre vor Hirschfelde zu umgehen, da im Nachbarland auch die Schule wieder losging. Nach ungefähr zehn Tagen durften sie wieder zurück. Kurz vor der Grenze verabschiedeten sie sich, wenn auch schweren Herzens. Der Prager Frühling gilt heute als ein Wegbereiter der friedlichen Revolution von 1989. „Das haben wir natürlich damals nicht geahnt“, sagt Eberhard Hellwig. Den Kontakt zwischen den Lehrer-Kollegen haben sich beide noch über viele Jahre erhalten.